Utftortftlje QTatfacIjen Ä 55
Dipl. Pol. TJdo Walendy
Diffamierte Medizin im Dritten Reich
Vorstellung der Konzentratverpflegung der Waffen-SS.
Mitte: Heinrich Himmler, links von Ihm vorn: SS-ObergruppenNlhrer Oswald Pohl, links von Ihm Prof. E.G. Schenck, 1943 ln Hochwald bei
Rastenburg/Ostpr.
Die Schwierigkeiten bei der Versorgung eingekesselter Truppen an der Ostfront schreckten die militärische Führung nach der
mißlungenen Versorgung Stalingrads aus der Luft auf. Das Oberkommando der Wehrmacht erteilte dem Verpflegungsamt den
Auftrag, eine "Motverpflegung des Heeres" zu entwickeln. Sie befriedigte nur zum Teil. Deshalb bekam ich als Emährungsinspek-
teur im März 1943 von Himmler den Befehl, bis zum Oktober 1943 eine eigene, variationsreichere Verpflegung nicht nur zu
entwickeln, sondern auch in zunächst ausreichender Menge (2 Millionen Portionen) produzieren zu lassen und für den Bedarfsfall
einzulagern. Das Soll wurde mit zusätzlicher Leistungssteigerung zahlreicher Lebensmittelfirmen tatsächlich erreicht. Die Be¬
zeichnung "Konzentratverpflegung" wurde gewählt, weil die neuartigen Verpflegungsmittel in geringstmöglicher Masse den
höchstmöglichen Mährwert enthalten und (zwecks Abwurf aus der Luft) transportgünstig sein sollte. Die Tagesration (ca 10 ver¬
schiedene Gerichte u.a.) wog 500 - 600 g, die Verpackung zusätzlich 50 g.*)
•) E.G. Schenck, “Zur Frage der Sonder- und Konzentrat-Verpflegung der Waffen-SS". 1943, Nur für den Dienstgebrauch.
Historische Tatsachen Nr. 55
Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck
-- Wissenschaftliches Sammelwerk —
Diffamierte Medizin im Dritten Reich
Die in diesem Heft berichteten Tatsachen sind aus
verschiedenen, auch gegensätzlichen, in- und ausländi¬
schen Veröffentlichungen, aus der Anhörung von Zeit¬
zeugen und Sachverständigen und nach wissenschaftli¬
cher, kritischer Prüfung gewonnen worden. Ihre Rich¬
tigkeit ist nachprüfbar. Vielfache Fußnoten weisen dem
Leser und Forscher die Richtung.
Soweit aus Tatsachen Folgerungen zu weiteren
Tatsachen gezogen werden, ergeben sich diese aus der
Logik, aus der Naturwissenschaft, aus der geschichtli¬
chen und Lebenserfahrung. Auch sie sind somit nach¬
vollziehbar. Wiedergegebene Darstellungen Dritter sind
gleichermaßen geprüft, wobei Zustimmung oder Ab¬
lehnung beigefügt ist.
Meinungsäußerungen fließen allein aus dem Kern
der Tatsachen, nicht aus ferneren, insbesondere politi¬
schen Absichten.
Über die Selbstverpflichtung des Verfassers und
Verlegers hinaus ist dieses Heft juristisch dahingehend
überprüft worden, daß weder Inhalt noch Aufmachung
irgendwelche BRD-Strafgesetze verletzen oder soziale¬
thische Verwirrung unter Jugendlichen auslösen.
"Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleini¬
gen Schuld Hitlers am Ausbruch des Krieges ist viel¬
mehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik.
Man braucht nur an die Erklärungen Adenauers gele¬
gentlich seines Besuches in Moskau 1955 und seine an
Polen gerichtete offizielle Kundgebung im vergangenen
Jahr zu denken!"
Prof. Dr. Theodor Eschenburg,
'Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik",
München 1967, Bd. I, S. 152.
Es ist gewiß berechtigt, zu erklären, daß vorstehen¬
des Zitat ausgeweitet beginnen müßte:
"Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleini¬
gen Verwerflichkeit des Nationalsozialismus bzw. Drit¬
ten Reiches in allen seinen einzelnen Lebensbereichen ist
vielmehr die Grundlage der Politik der Bundesrepublik."
Denn jeder Etablierte weiß offensichtlich, daß er nur
dann dazugehören darf, wenn auch er in seinem Metier
zur Dreckschleuder greift oder es zustimmend ("schwei¬
gend" wäre zu wenig) geschehen läßt, wenn andere es
tun.
Udo Walendy
^ Berichtigung: ^
In HT Nr. 52, (1. Aufl.) S. 30 linke Spalte 16. J
■ Zeile ist uns das Wort "Sterilisierung der Juden !
^.. auf mysteriöse Weise abhanden gekommen^
Copyright
by
Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung
D 4973 Vlotho Postfach 1643
1992
ISSN 0176 - 4144
Konten des Verlages: Postscheck Essen 116162 -433 (BLZ 360 100 43)
Kreissparkasse Herford 250 00 2532 (BLZ 494 501 20) Druck: Kölle Druck, D 4994 Pr. Oldendorf
2
Historische Tatsachen Nr. 56
Medizinisch-historische Untersuchungen über
"Medizin im Dritten Reich"
Bereits vor längerer Zeit übermittelte ich fairerweise
der Bundesärztekammer und dem Deutschen Ärzte¬
blatt im wesentlichen die jetzt hier veröffentlichten
Ausarbeitungen, weil ich erfahren hatte, daß an eine
Überarbeitung des quasi offiziellen Buches "Medizin im
Dritten Reich" (Hrsg. Johanna Bleker und Norbert
Jachertz, Deutscher Ärzte-Verlag Köln 1989 gedacht
werde. Die verantwortlichen Kollegen der ärztlichen
Standesführung hatten sich im Vertrauen auf die Serio¬
sität der Autoren für die genannte und analoge Publika¬
tionen engagiert eingesetzt.
Aber ich, der ich während des Krieges in verschiede¬
nen zivilen und militärärztlichen Zentralstellen unter
Beibehaltung auch der friedensärztlichen Pflichten tä¬
tig zu sein hatte, bekam Zweifel an der Korrektheit, ja an
der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit einzelner Artikel.
Ich glaubte, einen Diskussionsbeitrag leisten zu müssen
und hoffte, daß man sich mit einer Gegendarstellung
auseinandersetzen, ihr ggfs, folgen oder sie aber mit
guten Gründen widerlegen werde. Doch ich täuschte
mich. Denn die Reaktionen waren abweisend, und in
einer hieß es:
"Ich fiirchte auch, daß das Buch von seiner Intention her für
eine Aufarbeitung in dem von Ihnen angeregten Sinne nicht
geeignet ist. Ich will nicht ausschließen, daß das Thema »NS-
Vergangenheit« demnächst auch in Ihrem Sinne einmal wissen¬
schaftlich aufgearbeitet wird. Vielleicht ist die Zeit dazu aber
noch nicht reif. ... Das wäre im Grunde genommen auch die
Sache eines kritischen Historikers. Für einen solchen werde ich
gern Ihre und andere Unterlagen aufbewahren."
Für Wahrheitsfindung, lernte ich, sei es nie zu früh,
doch leicht zu spät und die Zeit immer reif.
Fazit:
"Was konveniert, wird publiziert,
was irritiert, flugs archiviert."
Medikament aus Lebern von Menschen?
AufS. 64 des Aufsatzes, in welchem er sich mit der Person des Anatomen Prof. H. Voß von der Reichsuniversi¬
tät Posen im Warthegau befaßt, unterstellt G. Aly, es sei ein Medikament aus Menschenlebern hergestellt worden.”
Der betreffende Passus lautet:
Da Prifibtul
Id (Rtitfcdgrfunbtjdl&imfe
F 373S/14.B.4J e.
7/
I I B«tlln no »r. <J<n
8«hr gawhrtwr Herr lollwg J
Belohegeeundheltaact bat eich Uber ala lajlxlerbarea
Lebcraxtrakt tu Buflera, daa eua Labarn bargaetallt «lrd, dla aua den
Oatcablatcn atoaaon. Hach den clr vorliegenden Onterauchuncen lalgt daa
T «rtrllgllchkelt. Aach an Fernlxloaa-Exankea ooll aa
alch bawührt naben.
♦ üü ““»kalcht auf dla angaapaaate Tereorgungalage alt LeberprOpara-
ten wurdei loh aa bagrüJen, wenn von kllnlachar Seite daa Extrakt ln Reh-
aea de* LBgllohon erprobt würde. Ich wUre daher für eine kuria üuflarung
*“»• *•»■*?*—
extrakta eugahan.
■ etwa 100 Aopullan zu 2,2 <
Hall HitlerI
ln Vertretung
/- -
Dieses Dokument zeigt, wie offen das Reichsgesundheitsamt die Dekane der medizinischen
Fakultäten zur Mitarbeit an Verbrechen einlud. Der Extrakt, um den es hier geht, ist hergestellt
aus Lebern, »die aus den Ostgebieten stammen« — eine deutliche Umschreibung dafür, daß das
Medikament aus den Lebern von Menschen hergestellt worden ist.
»Gesehen den 15.X.43 Vos«, lautet der handschriftliche Vermerk unten links."
und Sozialpolitik", Berlin 1989, Bd. 4, dort: G. Aly, "Biedermann und
Sachverhalt
Wie verhielt es sich mit
"Lebern aus den Ostgebie¬
ten"? Hitlers Leibarzt Prof.
Dr. Theo Morell hatte sich
mit tatkräftiger Unterstüt¬
zung seines Patienten für
das von ihm errichtete
Pharmazie-Imperium ein
wichtiges Monopol er¬
kämpft. Beim Reichskom¬
missar für die Ukraine und
Gauleiter von Ostpreußen
Erich Koch und den Mili¬
tärbefehlshabern der be¬
setzten südrussischen Ge¬
biete hatte er erwirkt, daß
ihm sämtliche in zivilen und
militärischen Schlachthö¬
fen anfallenden Lebern und
sonstige Drüsen innerer
Sekretion zur Verfügung
gestellt wurden. Sie wur¬
den in gefrorenem Zustand
an seine Firma Ukraino-
Pharma in Winniza abge¬
liefert und gelangten von
dort in Kühlwaggons zur
Verarbeitung in Morells
3
Fabriken in Olmütz (Hamma-Werk) oder Kosolup bei
Pilsen. Der hier hergestellte Leberextrakt-Hamma nach
Prof. Morell wurde in Ampullen zu 2,2 ml abgefüllt. Für
260.000 solcher Ampullen benötigte man 5 Tonnen Leber.
Das neue Medikament, das Morell gleichwohl schon
zuvor Hitler und zahlreichen anderen Prominenten
injizierte, war seitens des Reichsministeriums des Inne¬
ren nicht zugelassen und konnte deshalb im Deutschen
Reich nicht vertrieben und ohne vorhergehende phar¬
makologische und klinische Prüfung nicht angewendet
werden. Auf eine solche drängte Morell, wiederum mit
Unterstützung Hitlers, stark, hatte er doch z.B. in
Dezember 1943 einen Lagerbestand von 416.000 Stück
Ampullen, die nicht in den Handel kommen durften.
Unter dem Druck der Reichsführung nahm der Prä¬
sident des Reichsgesundheitsamtes in Berlin, Prof. Dr.
H. Reiter, die Prüfungsangelegenheit persönlich in die
Hand, bestätigte Morell am 25.10.1943 den Erhalt von
1000 Leberampullen und schrieb, er habe sie ohne
Nennung des Herstellers, jedoch mit Angabe »Leber aus
Ostgebieten« zur Prüfung an 9 Universitätskliniken
weitergegeben. Deren Beurteilung sei abzuwarten.
Empfängerin eines dieser Briefe war augenschein¬
lich die Medizinische Fakultät der Reichsuniversität
Posen, deren Dekan Voß ihn, da er als Anatom für
Medikamentenprüfungen nicht zuständig war, ad acta
legte.®
Mithin steht fest, daß es sich entgegen Alys Unter¬
stellung bei dem Medikament nicht um einen Extrakt
aus Menschen-, sondern um einen aus Rinder- und
Schweinelebern handelte.
Leibarzt Prof. Theo Morell -- Hauptberater Hitlers
in Fragen der Euthanasie und
der Vernichtung lebensunwerten Lebens?
K.H. Roth und G. Aly legten in dem Aufsatz "Das
Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbaren Kranken" 2 '
ausführlich dar, Theo Morell, Hitlers Leibarzt, habe,
höchstwahrscheinlich auf dessen Veranlassung, Litera¬
tur über Vernichtung lebensunwerten Lebens und
Euthanasie in großem Umfange gesammelt und sorgfäl¬
tig exzerpiert. Er habe sie kritisch beurteilt und als
Grundlage für einen Gesetzentwurf "Vernichtung lebens¬
unwerten Lebens" benutzt. Diesen habe Hitler studiert
und für seinen, auf den 1.9.1939 zurückdatierten Tö¬
tungserlaß verwendet. Morells Entwurf wird dem o.a.
Aufsatz als Dokument 2 beigelegt.
In einer Arbeit "Medizin gegen Unbrauchbare" 3 kommt
G. Aly 1985 auf dieses Thema in gleichem Sinne zurück.
Sachlage:
Verfasser beschäftigt sich seit Jahren mit den Tätig¬
keiten des Leibarztes Morell und deshalb selbstver¬
ständlich sehr genau-mit allen von ihm hinterlassenen
und vom National Archiv in Washington der wissen¬
schaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schrift¬
sachen. 4 ’ Er konnte bislang nicht den Eindruck gewin¬
nen, daß Morell außer mit Patienten und dem Aufbau
seines Pharma-Imperiums sich von sich aus oder auf
Verlangen Hitlers mit anderen Problemen, insbesonde¬
re mit solchen der Lebensvernichtung und der Euthana¬
2) K.H. Roth (Hrsg.), "Erfassung zur Vernichtung", Berlin 1984, S. 101-170
3) G. Aly (Red.), "Aussonderung und Tod - Die klinische Hinrichtung der
Unbrauchbaren", Berlin 1985, S. 14 u. ff + S 71 Anm.
4) National Archiv, Washington, Mikrofilm T 253, R 34-45 und 62.
sie, befaßt hatte.
Verfasser fühlt sich deshalb nach Kenntnisnahme
der Arbeiten von Roth und Aly zu einer nochmaligen
Überprüfung des in seinem Besitz befindlichen Archiv¬
materials verpflichtet. Die Morell-Papers bestehen in
den o.a. 13 Rollen aus insgesamt fast 17.000 Filmauf¬
nahmen, welche in 81 voneinander getrennten Foldern
(Heftern) unterteilt worden sind. Die Unterteilung er¬
folgte indes keineswegs sachgemäß, sondern unterlag
weitgehend dem Zufallsprinzip, so daß sich Privatbriefe,
Hitler-Notizen, wissenschaftliche Darlegungen und ge¬
schäftliche, finanzielle Probleme in bunter Weise mit¬
einander vermischen.®
Roths und Alys Ausführungen machen aus diesem
Morell gleichsam einen Universalsten von nicht nur
medizinischer, sondern allgemein kriminalhistorischer
Bedeutung.
Dies dürfte eine subtile, möglicherweise allzu subtile
Analyse des dem Verfasser und auch den genannten
Wissenschaftlern verfügbaren Archivmaterials recht-
fertigen, zumal ihr internationale Bedeutung zukommt.
Die Durchmusterung der genannten Filmrollen er¬
gibt, daß mit Ausnahme von R 44 auf keiner einzigen
Ausführungen über Euthanasie oder Menschenvernich¬
tung enthalten sind. Wir können uns somit bei der Ana¬
lyse auf diese eine R 44 beschränken. Sie wurde ebenso
wie die anderen im Aufträge der "American Historical
Association" im Jahre 1958 von dem bekannten Histori-
5) National Archiv. Washington, Mikrofilm-Rolle T 253, R 3777908, Morell Pa-
6) National Archiv. Washington, Morell Papers T 253 - R 44/F. 78-81
4
ker Prof. Weinberg — wie durch Unterschrift bestätigt
— katalogisiert.
Die Auszählung ergibt, daß 883 der insgesamt 1.321
Aufnahmen auf dieser R 44 in gleicher Weise wie die auf
den anderen Rollen lediglich private und geschäftliche/
ärztliche Morell-Angelegenheiten betreffen; bei den wei¬
teren 438 ist dies in Zweifel zu ziehen. Es handelt sich
vielmehr um Dokumente anderer und unterschiedlicher
Herkunft.
DieFolder (Hefter) 73+ 77 bestehen aus 113 Blättern
eines in einer Behörde geführten Tischkalenders, auf
dem als Rubriken täglich ausgedruckt sind: Zeit, Be¬
sprechungen (im Hause / außer Haus); Ferngespräche
(von ... ab); Verschiedenes. Sie erstrecken sich auf die
Zeiträume vom 1.10. - 31.12.1943 und vom 1.1. - 8.5.
1945; die letzte Eintragung erfolgte am 8.5. An den
Wochenenden bleibt der Terminkalender zumeist leer,
auch in den Zwischenzeiten fehlen wiederholt 6-10 Tage
lang die sonst häufigen, rein dienstlichen Notizen. Die
schwer lesbare Schrift stammt durchweg von 1 Person
und ist mit Sicherheit nicht die aus unzähligen Briefen
u.s.w. bekannte und eindeutig identifizierbare Morells.
Der Beamte/Angestellte strich Erledigtes energisch durch,
so daß nur gelegentlich noch Worte, praktisch aber keine
Namen, zu entziffern sind. Lesen kann man: Markthal¬
le, Opel, Dorpat, Reval, Futter, Kühe, Koffer mit Mantel
und Anzug, eigener Hut (schwarz)-, Ratskeller Schöne¬
berg, Kasino, Arbeitsausschuß, Reichsgruppenbespre¬
chung, Reichskredit- und Reichshilfeaktion, Deutsche
Bank, Betriebsappell.
Weder Namen, noch Dienststelle des den Kalender
Führenden sind zu ermitteln; da die letzte Eintragung
am 8. Mai 1945 erfolgte, dürfte es sich wohl um eine
zivile gehandelt haben.
Folder 76, von Weinberg als "Medical and financial
register 1944-45" bezeichnet, besteht aus 67 Seiten. Da¬
von sind 55 diejenigen eines Konto- oder Dienstlei¬
stungsbuches, mit je 3 Tagen auf einem Blatt, das die
Rubriken "Spätdienst, krank, Urlaub, Diktat, Tage-
buch-Nr." enthält und, mit Lücken, vom 5.8.1943 bis
zum 12.4.1945 benutzt wurde. Außerdem befinden sich
in diesem Hefter noch 12 Seiten eines von einer Hand
geführten Kontobuches mit den Rubriken: laufende Nr.,
Datum der Auszahlung, wofür, Betrag. Die Ausgaben
betreffen, soweit entzifferbar, solche für Benzin, Ersatz¬
teile für Elektrogeräte, el. Batterien, PKW-Reparatu-
ren, Nägel, Besen, Fahrgeld, Zeitungen u.a., in keinem
Fall Medikamente oder medizinisches Gerät. Beginn der
Eintragungen 1.9.1944, Ende 13.4.1945 mit Porto für
Weihnachtsgeld.
Obige Analyse beweist eindeutig, daß es sich bei den
Foldern 73, 76 und 77 der "Morell-Papers" um von
Weinberg übersehene Irrläufer handelt, welche mit Morell
nichts zu tun haben. Einer gleichen Prüfung müssen die
im unmittelbaren Anschluß an die 3 genannten Hefter
abgefilmten Folder 78-81 unterzogen werden; denn sie
enthalten die Schriften und Ausführungen zur Frage
"Euthanasie" und bilden die Grundlage der Behauptun¬
gen von Aly und Roth. Ihnen genügte als Beweis die
kurze Bemerkung Weinbergs:"compi/ed for or by Mo¬
rell" (".zusammengestellt für oder von Morell").
Die 258 Seiten der obigen Hefter haben folgenden
Inhalt: Fotokopien/Fotografien von z.T. umfangreichen
wissenschaftlichen Arbeiten aus den Jahren 1901-1936.
Sie behandeln sämtlich die ärztliche und rechtliche
Seite der Euthanasie und der Vernichtung lebensun¬
werten Lebens, sind deshalb teils von Ärzten, teils von
Juristen verfaßt und in ärztlichen, juristischen, philoso¬
phischen, theologischen Zeitschriften erschienen und
der Originalliteratur, nicht etwa Sonderdrucken ent¬
nommen. Die Mehrzahl der Veröffentlichungen liegt vor
dem Jahr 1931. Wir zählten 44 Arbeiten aus, ein Ver¬
zeichnis enthält 82 Nr., weshalb anzunehmen ist, daß
das an dieser Stelle eingeordnete Material unvollstän¬
dig abgefilmt wurde resp. sich an anderer Stelle befin¬
det. Zusammengestellt wurden die Unterlagen anschei¬
nend in einer Landesbibliothek; denn es heißt an einer
Stelle, daß ein Buch in der Landesbibliothek nicht zu
erhalten gewesen sei.
Der Literaturkollektion folgten nach ei nem Brief, der
den Schlüssel zum Verständnis des Ganzen abgibt und
deshalb später zu besprechen sein wird, Exzerpte aus
Buchbesprechungen des im Mittelpunkt der Ausfüh¬
rungen stehenden bekannten Buches vom Strafrechtler
Karl Binding und dem Neuropathologen Alfred Hoche,
"Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens",
Leipzig 1920, ferner Ausführungen von mehr als 70
Personen, darunter von Hitler und Rosenberg, zum
Thema.
Die Zusammenstellung endet mit 8 Seiten eines "Ent¬
wurfes", der mitS. 2 beginnt, weswegen Titel, Verfasser¬
name und Zeit der Entstehung nicht feststellbar sind.
Die Seitenzahlen sind wie der ganze Entwurf mit Ma¬
schine geschrieben, lediglich "Entwurf S. 5" wurde
handschriftlich gemacht. Die Schrift ist ebensowenig
diejenige Morells, wie die der kaum entzifferbaren Rand¬
bemerkung auf S. 2 ("Behandlung des Vorschlages .
der privaten Initiative überlassen und prüfen Perso¬
nen abhängig ist .")
Diese Fleißarbeit, deren Erstellung einschließlich Li¬
teratursammlung und Auswertung die volle Arbeits¬
kraft eines sachkundigen Mannes mit medizinischen
und juristischen Kenntnissen über Monate hin bean¬
sprucht haben dürfte, sprechen nun Aly und Roth ganz
und gar Morell zu. Dieser habe sie im Aufträge Hitlers
1939 gefertigt. Dem muß widersprochen werden; ein
Morell war weder zeit-, noch kenntnismäßig, noch aus
Gründen seiner Arbeitsweise hierzu geeignet und fähig;
zeitmäßig nicht, weil er zumeist in Hitlers Nähe weilte,
abgesehen davon seine recht umfangreiche Praxis ver¬
sorgte und schließlich schon damals seinen pharmazeu¬
tischen Geschäften nachging. Kenntnismäßig fehlte ihm
mindestens jede juristische Vorbildung, weshalb er ab
1943 einen Juristen in seinen Stab zog. Es gibt zudem
keinerlei Hinweis aus früherer oder späterer Zeit, daß er
sich auch nur im geringsten für psychiatrische oder gar
Euthanasiefragen interessierte. Und schließlich lag ihm
systematisch-wissenschaftliche Arbeit nicht; er hatte
Einfalle, notierte sie eigenhändig, skizzierte Gedanken
und Möglichkeiten. Er arbeitete aber niemals etwas
Hutcriaehe '
5
gründlich durch und aus. Hätte er jedoch wirklich mit¬
gewirkt, so hätte man an unzähligen Stellen seine Be¬
merkungen in charakteristischer Schrift mit abgekürz¬
ter Unterschrift feststellen müssen. Davon ist nichts zu
entdecken; sein Name taucht im Gesamttext nirgends
auf - abgesehen von Weinbergs Bemerkung in der Be¬
schreibung "compiled for or by Morell. "Aufdiese nichts¬
sagenden Worte gründen Aly und Roth ihre weitrei¬
chenden Behauptungen, die auch schon deshalb in Zweifel
zu ziehen sind, weil Morell 1939 bei Hitler noch keines¬
wegs die Vertrauensposition innehatte, die er etwa ab
1941 einnahm.
Jedoch kann dies allein noch nicht vollauf überzeu¬
gen, solange man den wirklichen Autor nicht kennt.
Dessen Feststellung dürfte aber nicht unmöglich sein.
Aly und Roth erwähnen mehrmals den Briefeines Asses¬
sors Schmidt-Rost, bringen aber lediglich Hinweise und
einen kurzen Auszug, der ihrer Absicht entspricht. Er
ist jedoch der Schlüsel zu der Erkenntnis, und so ist es
erforderlich, ihn vollständig wiederzugeben.
"Werner Schmidt-Rost 28. August 1939 ^
Assessor
Anden
Herrn Reichsstallhalter
Martin Mutschmann
Dresden Al
Schloßplatz 1
Auf persönliche Durchsicht dieses Schreibens durch den
Herrn Reichsstatthalter legt der Absender besonderen Wen.
Betr.: Vernichtung lebensunwerten Lebens (Vollidioten)
Im Jahre 1922 hat der berühmte Irrenarzt Prof. Dr.
Hoche mit Unterstützung des ebenso berühmten Strafrecht¬
lehrers Karl Binding vorgeschlagen, jene Vollidolen, die geistig
völlig tot und körperlich ein Abscheu erregendes Zerrbild der
Menschengestall sind, nicht mehr länger für teures (leid in den
Irrenanstalten zu hegen, sondern durch medizinischen Eingriff
ihr Leben zu verkürzen.
An Hand des von mir hierzu im Vorjahre gesammelten
Schrifttums wird sich jeder vernünftige Deutsche von der
Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Vorschläge überzeugen
können. Es geht nicht an, daß Lebewesen, die unter dem
Niveau mancher Tiere stehen, kunstvoll durch einen großen
Stab von Ärzten und Pflegern durchgefuttert werden, wenn
die Nahrung für die gesunden Menschen schon knapp ist. So
schrieb der Tübinger Psychiater Gaupp seinerzeit zu Bin-
ding-Hoches Vorschlag':
Aus persönlicher Erfahrung füge ich hinzu: es ist mir im
Winter 1916/17, als unserVolkmit demHungertode kämpfte,
oft nicht leicht geworden, die frühere Sorgfalt in der Pflege
wertloser Leben unheilbar Geisteskranker auszubringen und
um ihre reichliche Ernährung mich zu bemühen, während
draußen im Leben der Hunger die vollwertigen Menschen
schwächte und manche aufs Krankenlager tuberkulösen Siech¬
tums warf.....'
Ich unterbreite Ihnen, Herr Reichsstatthalter, diesen
Vorschlag Binding-Hoches in der Hoffnung, daß Sie sich für J
eine alsbaldige Durchführung einsetzen werden. Es handelt^
sich hier um Güterabwägungen, die endlich zu tatkräftigem
Handeln föhren müssen, sowohl im Frieden, wie auch im
Kriegsfälle.
Ich darf noch auf folgende Worte des Führers und Alfred
Rosenbergs hinweisen:
»Mein Kampf«, S. 144 ff und 148 unten - »Mythos des 20.
Jahrhunderts® «, S. 69 und S. 578. Vor irgendeiner Entschlie¬
ßung empfehle ich, persönliche Besichtigung der Vollidioten
in der Landesirrenanstalt in Amsdorf. Für mich war das
Erlebnis dieser Besichtigung ausschlaggebend für eine gründ¬
liche Bearbeitung dieser Vorschläge. Ich bin bereit, an Hand
meiner ausführlichen Materialsammlung, die Vorschläge
Binding-Hoches an jeder Stelle zu vertreten und bei Durch¬
führung derselben jede verantwortliche Tätigkeit zu über¬
nehmen. Eine Rundfrage des Medizinalrats Meitzer, früher
Großhennersdorf, der an sich gegen die Vorschläge aufge¬
treten ist, bei den Angehörigen solcher Vollidioten ergab,
daß von diesen kein Widerstand, überwiegend sogar Zustim¬
mung zu erwarten ist.
Wir können einen Millionenaufwand sparen, einige tau¬
send gesunde Menschen mehr ernähren und Pflegepersonal
für andere Zwecke frei machen, wenn wir den Mut zum
Handeln haben und uns nicht um die überall vorhandenen
Bedenklichkkeilskrämer kümmern.
Heil Hitler
gez. Werner Schmidt-Rost."
v___/
Der Brief beweist, daß der Assessor es war, der die
Literatur in der sächsischen Landesbibliothek seit etwa
1938 sammelte, exzerpierte und kritisch beurteilte. Hierbei
und bei Besuchen in Heil- und Pflegeanstalten erwarb er
zu den juristischen einschlägige medizinische Kennt¬
nisse hinzu, die er zusammengefaßt in dem stärker juri¬
stisch als medizinisch angelegten Entwurf als Vorschlä¬
ge dem für ihn zuständigen Gauleiter von Sachsen
Martin Mutschmann zur persönlichen Durchsicht über¬
reichte. Ob dieser oder ein von ihm Beauftragter es war,
der auf dem Briefbogen den Namen der wichtigsten Au¬
toren (darunter Hitler, Rosenberg) schrieb und die be¬
reits erwähnte Randbemerkung auf S.2 des Entwurfs
machte, kann nicht mehr eruiert werden.
Das gesamte Bündel landete schließlich, wie aus
Stempeln im Folder 81 hervorgeht, in der Bücherei der
"Reichsarbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstal¬
ten"; was aus dem einsatzgierigen Assessor wurde, ist
nicht bekannt. Sein Name taucht jedenfalls in der
Literatur über die Morde an Geisteskranken und Behin¬
derten nicht auf.
Damit dürfte eindeutig klargestellt worden sein, daß
es sich bei den Heftern 78-81 der R 44 der "Morell-
Papers" ebenfalls um Irrläufer handelt, welche Wein¬
berg oder Mitarbeiter an falscher Stelle eingeordnet
haben. Jedenfalls war Morell nicht Hitlers Vemich-
tungs- und Euthanasieberater, sondern dieser ließ sich
von anderen Stellen unterrichten.
6
"Darf sich des besonderen Schutzes
des Führers sicher sein"
Unterstellung
In seinem Beitrag "Die Aktion T 4 und die Stadt
Berlin" 71 äußert G. Aly:
"Der bereits erwähnte Oberarzt Willy Behrendt könnte 1941
vorübergehend Leiter des Tötungszentrums Hadamar gewesen
sein. Dies bezeugte die ehemalige Wittenauer Pflegerin Hack¬
barth 1948, und dafür spricht eine merkwürdige Formulierung,
die sich auf einer Beförderungsurkunde Behrends aus dem Jahre
1942 findet. Dort heißt es,
der Beförderte könne sich
>des besonderen Schut¬
zes des Führers sicher
sein«.
Diese Formulierung kann
sich auf eine geheime Tätig¬
keit dieses Berliner Arzles be¬
ziehen . Entsprechend
bemerkt N. Emmerich in Die
Wittenauer Heilstätten 1933-
I945" n , S. 88:.... 1942 wurde
der inzwischen beamtete A rzt
zum Oberarzj ernannt: "Zu¬
gleich darf er sich des be¬
sonderen Schutzes des
Führers sicher sein" heißt
es in der Urkunde."
Slegaund i
an dar Volksschule ln Speyer ooa l.Hooember
19)5 an zum Lehrer an dar glalchan Schule.
Jch vollziehe diese Urkunde in dar Erwartung,
daß dar Ernannte gatrau satnaa Diensteide seine Amts¬
pflichten gewissenhaft erfüllt und das Vertrauen
rechtfertigt, das ihn durch diese Ernennung bewiesen
wird. Zugleich darf er des besonderen Schutzes des
Führers und Reichskanzlers sicher sein.
3 p e g e r , den 19 .Oktober 1935.
Hamens des Führers und Reichskanzlers
Für den Reichsstatt)
der Reglerungspräsl‘
Verfasser verfügt über 5 Ernennungs- resp. Beförde¬
rungsurkunden aus den Jahren 1938-1942. Zwei wur¬
den ausgestellt vom "Reichsminister für Wissenschaft,
Erziehung und Volksbildung", eine vom "Reichsmini¬
ster für Bewaffnung und Munition", eine vom Oberbür¬
germeister der Hauptstadt der Bewegung (München)
und die letzte schließlich vom Präsidenten der Reichs¬
bahndirektion Köln für den Reichsverkehrsminister.
_ Die Ernennungen / Beför¬
derungen erfolgten sämtlich
im Namen des Führers (ein¬
mal: und Reichskanzlers) und
enthalten mit unwesentlichen
Variationen den Passus:
"Ich vollziehe diese Urkunde
in der Erwartung, daß der Er¬
nannte getreu seinem Diensteide
seine Amtspflichten gewissenhaft
erfüllt und das Vertrauen recht¬
fertigt, das ihm durch diese Er¬
nennung erwiesen wird,"
Sachverhalt
Die "merkwürdige"
Formulierung in der
Urkunde deutet nach
Ansicht der genannten
Autoren daraufhin, daß
der Führer die Beförder¬
ten vor möglichen gericht¬
lichen Maßnahmen schüt¬
zen werde, die gegen sie
wegen verbrecherisch-
ärztlicher Handlungen_
eingeleitet werden könn- ""
ten; denn sie hätten diese insgeheim auf seine Anwei¬
sung hin vorgenömmen.
Es bleibt zu prüfen, welche Bewandtnis es mit der
Formulierung auf sich hat.
- Uujern
r Pfalz.
1988. - Beitrag G. Aly , S. 136-149, dort S. 147 - 148; +
N. Emmerich S. 77-92; U. Grell, "Karl Bonhoeffer und die Rassenhygiei
207-218.
oder seitens des Rüstungs¬
ministers differenzierter:
Ich erwarte, daß er seine
verpflichtenden Aufgaben unter
Einsatz seiner ganzen Persönlich¬
keit bedingungslos und uneigen¬
nützig erfüllt; denn vom Erfolg
seiner Arbeit hängt das Schicksal
vieler Frontsoldaten ab ."
Dieser Anweisung folgt vor
der Unterschrift dann stets
der Satz:
"Zugleich darf er sich des
besonderen Schutzes des Führers
(und Reichskanzlers) sicher sein."
Es handelt sich mithin nicht, wie Aly und Emmerich
annehmen, um eine Spezialformulierung ad hoc, son¬
dern um eine Allgemeinfloskel, die besagt, daß auch der
Dienstgeber dem Dienstnehmer gegenüber Verantwor¬
tung übernimmt. Sie wurde nicht erst im Drittten Reich
eingefuhrt, sondern bestand schon zu Kaisers Zeiten, wie
aus einem Offiziers-Patent aus dem Jahre 1887 ersicht-
8) Joseph Walk, "Jüdische Schule und Erziehung im Dritten Reich", Frankfurt/M
1991, S. 227.
Nr. 55
7
lieh ist. Nach einer sehr persönlichen Beschreibung der
Dienstpflichten des Beförderten schließt die Urkunde:
"Dagegen wollen Allerhöchst dieselben Dero nun¬
mehrigen Hauptmann S. bei dieser Charge und der ihm
anvertrauten Compagnie nebst allen demselben daher
zustehenden Prärogationen und Gerechtsamenjederzeit
in Gnaden schützen und maintenieren (Hand über ihn
halten!). DeszuUrkund haben seine Königliche Majestät
dieses Patent Eigenhändig unterschrieben und mit Dero
Insiegel bedrucken lassen. So geschehen und geqe-
ben ."
In der Bundesrepublik Deutschland fehlt die persön¬
liche Ansprache. In einer Urkunde aus dem Jahre 1951
steht lediglich:
"Im Namen der Bundesrepublik verleihe ich dem . die Ei¬
genschaften eines Beamten auf Lebenszeit . Ort, Datum,
Unterschrift der Behörde."
Nur beiläufig sei in diesem Zusammenhang bemerkt,
daß selbstverständlich die Verleihungsurkunde fiir die
Goethe-Medaille, welche Karl Bonhoeffer anläßlich sei¬
nes 75. Geburtstages im Jahre 1943 erhielt, die Unter¬
schrift Hitlers trug. Dies gehört seit jeher zu den Pflich¬
ten eines Staatsoberhauptes, wenn er höchste Auszei-
chungen vergibt und deutet keineswegs auf eine "beson¬
dere" Beziehunghin, wieU. Grell untersch wellig andeu¬
tet (1/S. 212).
Sollten die Geisteskranken und körperlich Behinderten
im Kriege verhungern?
Unterstellung
In seinem Beitrag "Die Wittenauer Heilstätten 1933
-1945 stellt N. Emmerich 9 ' zur Ernährungsversorgung
der in den psychiatrischen Anstalten untergebrachten
Geisteskranken fest:
"Über die Ernährung und Verpflegung während des
Krieges ist nichts genaues bekannt, doch darf man wohl
die Angaben aus französischen Lehrbüchern, daß die Na¬
tionalsozialisten im Kriege die Reduktion der Kost in
psychiatrischen Kliniken auf 1.100 Kalorien ungeordne¬
ten, übertragen."
Sachverhalt
Auf schwierigste Weise mußten in Zusammenarbeit
von Ärzten, Krankenanstalten, Patienten ab September
1939 Erfahrungen über die Auswirkung der Lebensmit¬
telrationierung auf die Kranken gesammelt, diese zu¬
gleich aber auch schon beraten werden. Ab April 1940
bis Mai 1942 konnte die Abteilung "Krankenernährung"
der Reichsärztekammer die Schrift "Grundlagen und
Vorschriften für die Regelung der Krankenernährung
im Kriege" 10 ' in insgesamt etwa 150.000 Exemplaren
kostenlos an sämtliche noch im Zivilbereich praktizie¬
rende Ärzte verteilen. Anhand dieser Schrift konnte
jeder Arzt, ob in der Praxis oder im Krankenhaus tätig,
die Ernährung seiner Kranken, ihrem Zustand entspre¬
chend, so günstig gestalten, wie es unter Kriegsverhält¬
nissen eben möglich war.
Das Büchlein war im engsten Einvernehmen mit den
9) N. Emmerich, "Die Wittenauer Heilstätten 1933-1945" in "Totgeschwiegen
1933-1945 ~ Die Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" Wiss Ber
G. Aly Berlin 1988, S. 77-92, dort S. 84.
10) E.G. Schenck, "Grundlagen und Vorschriften für die Regelung der Kranken-
ernährung im Kriege", Berlin-Wien 1940-1942 (4 Auflagen) 108 S., dort S. 40
zuständigen Abteilungen des Reichsministeriums für
Ernährung und Landwirtschaft verfaßt worden, ent¬
hielt also auch die gemeinsam erarbeiteten Erlasse,
welche nicht nur die Einzelernährung, sondern auch die
Gemeinschaftsverpflegung z.B. in den verschiedenen
Krankenanstaltskategorien betrafen.
Der Kranke in einer Anstalt erhielt die zustehende
Ration als Normalverbraucher" und darüberhinaus in
jedem allgemeinen Krankenhaus Sonderzulagen, die
aber entsprechend der Art der Krankheit oder körperli¬
chen Beanspruchung gestaffelt wurden. Lungenheil¬
stätten, Entbindungsanstalten und Kinderkrankenhäu¬
ser erhielten die höchsten Zulagen.
Besserstellungen über die Sätze der Normalverbrau¬
cher hinaus wurden nicht vorgesehen für Trinker-Heil¬
anstalten, Heilstätten für Süchtige und Geschlechts¬
kranke, für Krüppelheilstätten, chronisch Kranke und
Sieche, Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke,
Schwachsinnige, Epileptiker und Gefangene. Dies war
insofern berechtigt, als alle diese Kranken keinen höhe¬
ren physiologischen Nahrungsmittelbedarf aufwiesen
als die durchweg in Arbeit stehenden Normalverbrau¬
cher und die besonders beanspruchten Hausfrauen.
Bestanden in solchen Anstalten jedoch Krankensta¬
tionen, so wurden diese entsprechend den höheren Sät¬
zen der Allgemeinen Krankenhäuser versorgt; war dies
nicht der Fall, so konnte der Anstaltsarzt im jeweiligen
Einzelfall die entsprechende Einzel-Regelung in An¬
spruch nehmen.
Daraus folgt, daß die Insassen von Heil- und Pfle¬
geanstalten in genau der gleichen Weise behandelt wurden
wie die große Menge der Normalverbraucher.
Darüberhinaus erhielten alle Krankenanstalten
Sonderzuteilungen von nicht rationierten, sondern le¬
diglich bewirtschafteten Gemüse- und Obstkonserven.
8
Historische Tatsachen Nr. 56
Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck während des Krieges
bei einer Krankenvisite mit seinem Assistenzarzt
15 Dosen für jedes belegfähige Bett bekamen die allge¬
meinen Krankenanstalten, 10 Dosen entsprechend
Krüppelheilanstalten, Anstalten für chronisch Kranke
und Sieche, Heil- und Pflegeanstalten, Krankenstatio¬
nen oder Anstalten für Schwachsinnige.
BohnenkafFee und echten Tee erhielten u.a. Anstal¬
ten für chronisch Kranke und Sieche, für neurologisch
Kranke, Krankenstationen von Heil- und Pflegeanstal¬
ten. Diese "Raritäten" wurden an die Zivilbevölkerung
nur bei besonderen Gelegenheiten, z.B. nach schweren
Bombenangriffen ausgegeben (Volksname: Zitterkaffee
= 50 g.)
Zahlreiche Heil- und Pflegeanstalten besaßen eigene
landwirtschaftliche Betriebe und wurden seitens des
Ernährungsamtes als Selbstversorger anerkannt. Sie
konnten somit Erzeugnisse ihrer Gärtnereien u.s.w. zur
Beköstigung der Anstaltsinsassen verwenden. Die Ver¬
wendung dieser selbsterzeugten Nahrungsmittel blieb
besonderer Regelung Vorbehalten, was den betreffenden
Anstaltsleitern einen.erheblichen Spielraum beließ.
Aus dem Gesagten ergibt Sich, daß, so groß das Un¬
glück für sie schließlich auch wurde, von den für ihre
Ernährung verantwortlichen Ärzten nicht daran ge¬
dacht wurde, Geisteskranke u.s.w. schlechter als die
Normalverbraucher zu stellen, womit sie sich in Über¬
einstimmung mit den zuständigen Abteilungsleitern im
RMEuL (Reichsministerium für Ernährung und Land¬
wirtschaft) befanden.
Trotzdem ist erwiesen, daß in Heil- und Pflegeanstal¬
ten Hungerbaracken eingerichtet wurden, und es auf
diese Weise zu einer Selektion unter Geisteskranken
kam. Ein Erlaß des Bayer. Staatsministers des
Innern vom 30.11.1942 besagt u.a.: es sei im
Hinblick auf die kriegsbedingten Ernährungs¬
verhältnisse und auf den Gesundheitszustand
der arbeitenden Anstaltsinsassen nicht mehr
länger verantwortbar, daß sämtliche Insassen
unterschiedslos die gleiche Verpflegung er¬
halten. "Es wird daher angeordnet, daß mit
sofortiger Wirkung sowohl in quantitativer
wie in qualitativer Hinsicht diejenigen Insas¬
sen die nutzbringende Arbeit leisten oder
in therapeutischer Behandlung stehen, ferner
die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegs¬
geschädigten und die an Alterspsychose Lei¬
denden zu Lasten der übrigen Insassen besser
verpflegt werden."
In der Anstalt Eglfing verhungerten infol¬
ge dieses Erlasses in 2 Hungerhäusern bis
1945 = 444 Geisteskranke. 111 Dies wurde erst
lange nach dem Kriege bekannt, war aber
damals schon, als in dieser Weise selektiert
wurde, nicht zu verantworten. Doch wäre es
zu verhindern gewesen, wenn ein Ärztin einer
solchen Anstalt, dem die obengenannten
"Grundlagen usw." ja persönlich zugestellt
worden waren, den Mut gehabt hätte, sich
über den Anstaltsleiter und das Bayer. Mini¬
sterium hinweg, direkt an die Abteilung "Kran¬
kenernährung" der Reichsärztekammer zu wenden. Diese
hätte, das darf der Verfasser wohl behaupten, in Zusam¬
menarbeit mit dem Reichsministerium für Ernährung
und Landwirtschaft energisch eingegriffen.
Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck nach Rückkehr
aus 10-]ährlger sowjetischer Gefangenschaft
11) G. Schmidt, "Selektion in der Heilanstalt", Stuttgart 1965,-S. 128 u. ff.
Historische '
9
Tötung behinderter Kinder
"aus wissenschaftlicher Neugierde" ?
Unterstellungen
In ihrem Beitrag "Kinderfachabteilung Wiesengrund"
vermittelt M. Krüger 1 » in beklemmender Weise den Ein¬
druck, der "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Er¬
fassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden"
(später bei ihr stets »Reichsausschuß«) habe schwerstge-
schädigte und behinderte Kinder lediglich deshalb in die
sogenannte Kinderfachabteilung der Wittenauer Heil¬
stätten eingewiesen, damit dort mit ihnen unter Inkauf¬
nahme des Todes experimentiert werden könne. Die
beabsichtigte Tötung sei sowohl mittels Überdosierung
von Hypnotika, bewußt unterlassener Behandlung (im
Krankheitsfalle) oder durch Verhungern herbeigeführt
worden. 131
Hieb- und stichfeste Beweise hierfür vermag Verfas¬
serin nicht zu erbringen, so daß sie selbst mehrfach
äußern muß, "Tötungsermächtigungen lassen sich nur
indirekt erschließen" resp-, "Einiges spricht dafür, daß.
... , Die Durchsicht der Krankengeschichten vermittelt
den Eindruck, daß.... oder "Es liegt der Verdacht nahe .".
Substantieller sind die Angaben über die Tuberkulinbe¬
handlung, in denen die Autorin den damals als Vorbild
der deutschen Pädiatrie (Kinderheilkunde) hochgeschätz¬
ten Berliner Kinderkliniker Prof. Dr. Georg Bessau
(1884-1944) und in diesem Zusammenhang dann auch
dessen Schüler Dr. Ernst Hefter (1906-1947) beschul¬
digt, Tuberkulinimpfungen mit tödlichem Ausgang bereits
ab 1915 betrieben zu haben. Fragwürdige Experimente,
so schreibt sie, waren schon zu früherem Zeitpunkt kein
Hindernis für Bessau. In seiner 1915 veröffentlichten
Habilitationsschrift beschrieb er seine umfangreichen
Versuche an Kindern der Universitätsklinik Breslau,
die monatelang täglichen Tuberkulineinspritzungen un¬
terzogen wurden. Fieber und langwierige Abzeßbildun-
gen waren die Folge.
"Bemerkt se i, daß bei derartigen Versuchen natürlich nur
12) Martina Krüger, "Kinderfachabtlg. Wiesengrund. Die Tötung behinderter
Kinder in Wittenau in: "Totgeschwiegen 1933-1945", hrsg. Arbeitsgruppe
zur Erforschung der Geschichte der Karl Bonhoeffer-Nervenklinik. Wiss
Berater G. Aly, Berlin 1988, S. 151 u. ff. +
Krehl - Mering - Bergmann, 'Lehrbücher der Inneren Medizin”, 1922+ 1934
A. Goldscheider, "Therapie innerer Krankheiten", Berlin 1929 +
R. Franck, "Moderne Therapie", Berlin - Göttingen -Heidelberg 1949 +
R. Finkeiburg, Die Therapie an den Bonner Universitätskliniken", Berlin -
Köln 1931 +
193eT ArZne ' bUCh ^ d ' e Stadt ’ Krankenanslal,en m München“, München
13) G. Schmidt, "Selektion in der Heilanstalt 1939-1945", Stuttgart 1965, S. 113,
hier Kapitel: " Sollten die Geisteskranken und körperlich Behinderten im
Kriege verhungern?"
klinisch gesunde . Kinder ein eindeutiges Resultat ergeben
können." (Zitat Bessau)
Folgt man Krügers Bericht, so habe Bessau, nun¬
mehr zusammen mit Hefter, in Wittenau 1942/43 seine
ersten Untersuchungen mit dem nicht identifizierbaren
Tb-Impfstoff 0,001 fortgesetzt. Außerdem sei im Zusam¬
menhang hiermit von Marianne Salzmann in der Uni¬
versitätskinderklinik Berlin über die Frage der Beein¬
flussung von Eiterungen durch Zugabe von Ascorbin¬
säure tierexperimentell und klinisch gearbeitet worden,
was Martina Krüger zum Anlaß nimmt, den Verdacht zu
äußern, daß Marianne Salzmann die durch Bessau-Im-
pfungen bei Kindern hervorgerufenen, oft monatelang
bestehenden Abzeßbildungen als weitere Forschungs¬
möglichkeit willkommen waren.
Zu prüfen ist die Validität der Angabe, daß 4 Mitar¬
beiterinnen Hefters zum Jahresabschluß 1944 Sonder¬
zuwendungen erhielten, weil sie an der Ermordung be¬
hinderter Kinder "mitarbeiteten", (s. S. 174)
Sachlage
Die apodiktische Angabe der Autorin, Mitarbeiterin¬
nen Dr. Hefters hätten an der Ermordung behinderter
Kinder "mitgearbeitet" (S. 174), ist unrichtig, wenn man
ihren eigenen Ausführungen auf S. 173 folgt. Denn in
dieser Sache wurden in den sechziger Jahren am Land¬
gericht, später am Kammergericht Berlin ein Verfahren
durchgefiihrt, in denen den genannten Schwestern keine
Mitwirkung an Euthanasiemaßnahmen nachgewiesen
wurde. Zu Verurteilungen kam es nicht. Die vorgenann¬
te Floskel zeugt von dialektischer Schulung, da sie den
Gerichtsbeschluß ohne Begründung als falsch oder un¬
zureichend verdächtigt. Im übrigen folgt die Diskrimi¬
nierung dem Muster, zu dem Verfasser sich bereits
geäußert hat: 141 In der Unterschrift zu einem auch in die¬
sem Falle belanglosen Brief wird die Diffamierung ver¬
steckt.
Verfasser beabsichtigt nicht, sich dem deprimieren¬
den Eindruck zu entziehen, den ärztliches Verhalten
seiner Altersgenossen in psychiatrischen und anderen
Anstalten zur Zeit des Dritten Reiches in ihm maxi¬
miert. Er ist nicht nur nachträglich ergriffen und heuti¬
gen Anklägern gegenüber in mancher Hinsicht waffen¬
los, sondern bemühte sich bereits damals, soweit es in
seinem Vermögen lag, Unheil zu bannen, und er fand
viele Gefährten dabei.
14) "Medikament aus Lebern von Menschen?" , vgl. hier S. 3,
10
Historische Tatsachen Nr. 55
Er wendet sich deshalb gegen das vollständige "Land
unter", das Zeitgeschichtsrechercheure, die sich als Hi¬
storiker betrachten, Generationen, die in unserer ersten
Jahrhunderthälfte lebten und in ihrer Weise wirkten,
bereiten wollen. Er würde es außerordentlich bedauern,
wenn etwa im Jahr 2030jene Wisenschaftler und Ärzte,
die sich im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ver¬
zweifelt um Verhütung und Heilung der AIDS-Krank-
heit bemühten, wegen ihrer Versuche und Untersu¬
chungen an Gefährdeten und Kranken von denen zu
Verbrechern und Mördern erklärt werden, die ihre
Erregungen nicht nachempfinden können, weil das Heil¬
mittel gefunden und die Krankheit zu anderen überhol¬
ten ad acta gelegt und vergessen werden konnte.
Mit welch verzweifelter Leidenschaft bemühte man
sich doch bis in die vierziger Jahre in aller Welt um
Verhütung und Heilung der Tuberkulose, an welcher
allein in Deutschland Hunderttausende litten, und sie,
z.T. ohne ihr Wissen, weiterverbreiteten. Welche furcht¬
baren Krankheitsbilder lieferte sie doch, wie Verfasser
aus engster Berührung mit Schwerstkranken über Jahre
hin erfuhr. Wie viele Menschen, Ärzte, Sozialhygieni¬
ker, Politiker, sannen, dachten und waren guten Glau¬
bens. Man hatte die Blattern durch Schutzimpfung
ausgerottet, der Diphterie durch die Serumbehandlung
wenn auch nicht die Häufigkeit, so doch einem Teil ihre
Gefahr genommen!
Ein Impfstoff aus bakteriellen Stoffwechselproduk¬
ten zur Verhütung der Infektion und zur Steigerung der
Abwehrkräfte, dies war der Traum Robert Kochs, des
Entdeckers des Tuberkel-Bazillus, und seiner unabläs¬
sig daran arbeitenden internationalen Schule. Die Hoff¬
nung auf ein Heilserum ging nie in Erfüllung, und erst
die Antibiotika brachten die Errettung von dieser welt¬
weiten Armutskrankheit, welche - fast unbeachtet und
beinahe in Vergessenheit geraten - derzeit sogar in
Deutschland immer noch ungefähr so viele Todesopfer
fordert wie die Automobilunfalle.
Georg Bessau, den Martina Krüger gleichsam als In-
augurator aller üblen Experimente
an Kindern in den Mittelpunkt ihrer
Ausführungen stellt, war Kinder-
Facharzt und als solcher eher Für¬
sorger als Mißhandler kranker
Kinder jeder Art!
In eine Kinderklinik werden
gewöhnlich keine gesunden Kinder
aufgenommen; unter den Kranken
befand sich z.Zt. der Untersuchung
Bessaus vor 1915 der damaligen
Volksdurchseuchung entsprechend
sicherlich ein sehr hoher Prozent¬
satz von Tuberkulösen, welche
praktisch alle fieberten und viele,
abgesehen von der Lungenerkran¬
kung, anderweitige spezifische
Prozesse aufwiesen. Die Kinder
befanden sich sicherlich in den
verschiedensten Behandlungssta¬
dien, und Bessau bemühte sich -
dies war wohl eine seiner wissenschaftlichen Lebensauf¬
gaben -, ihren Zustand durch eine Tuberkulin-Behand¬
lung zu bessern, sie vielleicht, in vergeblicher Hoffnung,
auch zu heilen.
Zum besseren Verständnis sind einige Fragen zu
beantworten: Was hat es nun mit den Tuberkulin-Ein¬
spritzungen auf sich und was ist Tuberkulin?
Nach Entdeckung des Tuberkulinbazillus ging Ro¬
bert Koch an die Entwicklung eines Medikamentes zu
seiner Vernichtung im Organismus; er hatte als Vorbild
Louis Pasteur im Auge, der nach Erforschung des Milz¬
brandbazillus ein wirksames Serum gegen den Milz¬
brand geschaffen hatte. Die Öffentlichkeit setzte größte
Hoffnungen auf Kochs Tuberkulin, das aus einem keim¬
freien Filtrat abgetöteter Tuberkulose-Bazillen herge¬
stellt wurde. Als Tuberkulin (alt) ging es in die Geschich¬
te ein, entsprach in seiner Wirkung aber den hochge¬
steckten Erwartungen nicht, so daß verschiedene For¬
scher immer neue Varianten entwickelten. Darunter be¬
fanden sich Emil von Behring, der darüber aus einem
Schüler Kochs zu dessen Gegner wurde, Calmette, wel¬
cher eine Schutzimpfung auf der Grundlage des Rinder-
Tuberkulosebazillus (BCY) entwickelte und Friedmann,
der mit Schildkröten- Tbc-Bazillen arbeitete, um nur ei¬
nige zu nennen.
Alle diese Präparate wurden klinisch an Kranken
geprüft; es wurde mit ihnen behandelt. Ihr Effekt und
die Reaktion auf sie waren, ebenso wie der Krankheits¬
verlauf, schwer voraussehbar. Das allgemeine Streben
ging dahin, ein Präparat zu schaffen, das möglichst
wirksam war, aber möglichst geringe Nebenwirkungen
/ Reaktionen aufwies. Man machte Kuren, indem man
unter sorgfältiger Beachtung der Reaktionen und des
weiteren Krankheitsverlaufes in besonders graduierten
Spritzen 0,1 ccm einer auf 1 : 100.000 verdünnten
Tuberkulinlösung in oder unter die Haut spritzte und
dies in Abständen (2-3 Injektionen je Woche) langsam
verstärkte. Jedoch wurde nie mehr als 1 ccm einer
Verdünnung 1 : 1000 injiziert. Sorgfältigste Beobach-
Das SS-Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt 1943/1944 Berlin.
Es wurde weitergearbeitet.
Historimche
Nr. 55
11
tung war unabdingbares Gesetz. Bei der Behandlung
gingen die einen Therapeuten von Minimaldosen aus,
die sie langsam steigerten, um den Körper gegen die
Keime unempfindlich zu machen (Anergisten), die ande¬
ren steigerten die Dosen nur gering, um so die Abwehr-
fahigkeit des erkrankten Menschen anzuregen (Allergi-
sten), jedoch hatte man sich nach dem Befinden des
Kranken zu richten.
Man erkennt hieraus wohl, wie ungeklärt die wissen¬
schaftliche Situation damals noch war, und dies galt be¬
sonders für die Frage der Schutzimpfung, d.h. der Ver¬
hütung einer Ansteckung mit Tuberkulose. Eine solche
Prophylaxe konnte natürlich nur bei gesunden, aber in
gefährdeter Umgebung lebenden Kindern gewagt wer¬
den. Dies meint wohl der von Krüger gerügte Satz
Bessaus. Daß es hier um äußerst gefährliche Dinge ging,
zeigt das Lübecker Unglück mit Calmette-Impfstoff im
Jahre 1926 deutlich genug.
Wenn bei Krüger von Abzeßbildungen "posthoc,
propterhoc" geprochen wird, so muß Widerspruch einge¬
legt werden; solche Eiterungen gehörten damals durch¬
weg zum Krankheitsbild der deletär (tödlich) verlaufen¬
den Tuberkulose, das man heute nicht mehr kennt. Die
in oder dicht unter die Haut injizierten Mengen waren
nur gering und entsprachen keineswegs den 20, 30 und
viel mehr ml, an welche Verfasserin vom heutigen Wis¬
sensstände ausgehend wohl denkt.
Die Tuberkulin-Kur gehörte bis 1948 zum Bestand¬
teil der spezifischen Tuberkulosetherapie, wurde aber
doch nur bei einer Minderzahl geeignet angesehener
Patienten eingesetzt, weil sie sorgfältigste Beobachtung
voraussetzte. Sie wird in praktisch allen einschlägigen
Lehrbüchern u.s.w. angeführt und beschrieben. Auch
Verfasser wendete sie noch an.
Gehen wir nun zu der Kindernervenklinik in den
Wittenauer Anstalten über, so ist mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß sich
unter den dorthin Verbrachten viele Tuberkulosekran¬
ke befanden. In Abweichung von Krügers Vorstellung,
daß vornehmlich Kranke ohne nennenswerte familiäre
Bindung zur Behandlung mit dem Tb-Impfstoff 1:1000
(vielleicht Tebeprotin) ausgesucht wurden, könnte man
eher annehmen, daß es solche waren, die man nach
ihrem Krankheitsverlauf für geeignet hielt. Daß es sich
wirklich um Tuberkulosekranke handelte, wird aus den
mitgeteilten Angaben ersichtlich: bei einem der kran¬
ken Kinder liegt ein Obduktionsprotokoll nicht vor, bei
den anderen wurde Tuberkulose festgestellt. Diese kann
nicht etwa erst Folge der Tuherkulinbehandlung sein,
da der Impfstoff bazillenfrei ist.
Daß den Kranken in der Bessau-Klinik und Wittenau
Ascorbinsäure = Vitamin C in größerer Menge zugeführt
wurde, kann nicht beanstandet werden. Das damals
noch höchst wertvolle synthetische Vitamin C wurde
gern bei Infektionskrankheiten eingesetzt und auf seine
Wirkung hin erforscht. Es ist für jedermann verträg¬
lich, und der Amerikaner Pauling, der diese Verwen¬
dung in aller Welt propagierte, erhielt in den 60er
Jahren dafür den Nobelpreis.
Noch einige Bemerkungen zu W. Hefter. Es ist ein
offenes Mißverständnis, ihm vorzuwerfen, daß er ein
Anhänger "aktiver" Therapie war, wobei der Zusatzaus¬
druck "aggressiv" aus der Feder der Autorin stammt. Er
befand sich vielmehr mit seiner These "Heilung durch
Krankheit" auf dem Boden einer damals weit verbreite¬
ten ärztlichen Richtung. So hatte z.B. u.a. der große
Chirurg August Bier 1921 eine Arbeit über "Heilentzün¬
dung und Heilfieber unter besonderer Berücksichti¬
gung der parenteralen Proteinkörpertherapie" 151 veröf¬
fentlicht (1921). Einen Überblick kann sich z.B. jeder
Interessierte durch das Studium des Buches von H.
Königer 16 ’ über diesen ganzen Komplex verschaffen.
Wenn Hefter daran dachte, durch Immunisierungsver¬
fahren und Fieberkuren auch cerebrale (Gehirn-) Stö¬
rungen zu verbessern, so hatte er ein großes Vorbild in
dem Wiener Psychiater Wagner v. Jauregg, der 1917/18
die progressive Paralyse durch Superinfektion mit Ma¬
lariaerregern so erfolgreich behandelte, daß diese The¬
rapie später als ärztliche Pflicht galt. Ohne Zweifel hat
er eine größere Anzahl solcher Kranker versuchsweise
behandeln müssen, bevor er zu einem positiven Urteil
kam. Der Vorwurf, daß Hefter sich bei seinen Bestre¬
bungen auch darum bemühte, ein billiges Verfahren zu
entwickeln, dürfte angesichts der derzeitigen lebhaften
Auseinandersetzungen um die Senkung der Ausgaben
für Krankenbehandlung abwegig sein.
Darin, daß die Luftenzephalographie (Einblasung
von Luft in die Hirnkammern zwecks Messung elektri¬
scher Ströme im Gehirn) eine sehr unangenehme und
nicht gefahrlose diagnostische Methode war, die mög¬
lichst selten, d.h. nur wenn sie unbedingt erforderlich
war, und unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln
eingesetzt werden sollte, stimmt der Verfasser mit der
Autorin überein. Aber es gab zu damaliger Zeit wirklich
kein anderes Verfahren. Daß Hefter dieses risikoreiche
Verfahren lediglich zu Forschungszwecken rücksichts¬
los bei seinen kleinen Patienten anwandte, ist lediglich
der Eindruck der Verfasserin. Hätte er es getan, so wäre
es unentschuldbar. Einiges in den wiedergegebenen
Krankheitsgeschichten spricht freilich dafür. Leider
kam es nicht zu einem klärenden Prozeß, und Hefter
scheint wie viele andere in dem berüchtigten, unter
sowjetischer Befehlsgewalt stehenden Gefängnis Baut¬
zen - Zeugenaussagen zufolge - umgekommen zu sein.
Zu Martina Krügers Abhandlung wären weitere An¬
merkungen zu machen, auch solche, welche den von ihr
meistbeschuldigten Dr. Hefter betreffen; Verfasser be¬
schränkt sich auf die hier vorgebrachten, merkt jedoch
gleich an, daß ihn die Arbeit insgesamt ansprach, weil
manche offensichtlich kriminellen Vorgänge dargelegt
wurden. Wissenschaftlicher Wert kann einer derartigen
Untersuchung jedoch lediglich dann zugesprochen
werden, wenn die gebrachten Aussagen hieb- und stich¬
fest sind, Sachkenntnis bezeugen und anstelle erforder¬
licher und dem Ernst der Dinge angemessener Objekti¬
vität nicht allenthalben unbeherrschte Voreingenom¬
menheit durchschlagen lassen.
15) Parenterale Therapie = Ernährungsweise, bei der die Nahrung nicht in den
Darm gelangt, sondern durch die Körperoberfläche aufgenommen wird.
16) H. Königer, "Krankenbehandlung durch Umstimmung", Leipzig 1929
12
"Deutsche Hepatitisforschung
im Zweiten Weltkrieg"
von B. Leyendecker und B. E. Klapp»
Ergänzung und Kritik
Befaßt sich eine Abteilung für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie eines Universitätsklini¬
kums (hier: Rudolf-Virchow-Krankenhaus Berlin-Char-
lottenburg) mit einer Virus-bedingten Infektionskrank¬
heit, die per se nur geringe psychosomatische (seelisch¬
körperliche) Bezüge aufzuweisen vermag, dann erwar¬
tet der aufmerksame Leser eine Darstellung mit Hinter¬
grund. Denn ihres Selbstverständnisses wegen sollten
sich Ärzte dieses Fachbereiches, wenn sie sich in die Me¬
dizinhistorie begeben, nicht so sehr mit dem Gegenstand
"Forschung" als mit den Forschern beschäftigen und
deren Intentionen — welcher Art diese auch immer sein
mögen - nachspüren.
In dieser Hinsicht bleibt die Arbeit, die wir hier zu
betrachten haben, leider ganz farblos. Sie bringt Äuße¬
rungen und Berichte, erwähnt Arbeitserschwerungen,
die der Luftkrieg damals im zweiten Weltkrieg eben so
mit sich brachte, würdigt aber in keiner Weise die
schweren Belastungen von außen und innen, denen
nicht nur Ärzte und Forscher, sondern alle ausgesetzt
waren, die zwangsweise den tödlichen Gesetzen eines
Krieges unterworfen waren. Es ging nicht um die Über¬
windung eigener Beschwernisse, sondern für die Ärzte
auch um möglichste Entlastung anderer in gleicher
Weise wie sie in ihren Lebenswurzeln schwer Betroffe¬
ne.
Fragt nicht die Tiefenpsychologie zunächst nach dem
Menschen und dann erst nach den Auswirkungen seines
Erlebens und Leidens auf Art und Weise seiner Tätig¬
keiten?
Davon nicht einmal der Hauch eines Gedankens in
der vorliegenden Arbeit; sie erfüllt die in sie gesetzten
Erwartungen nicht, und Verfasser erlaubt sich deshalb,
so gut wie noch möglich, wenigstens die Umwelt der
handelnden Persönlichkeiten zu skizzieren, welche
Leyendecker und Klapp nur abzuqualifizieren vermö¬
gen.
Hier steht an erster Stelle der Internist Prof. Dr. med.
Kurt Gutzeit (1893-1957), seit 1934 Direktor der Medi¬
zinischen Universtätsklinik in Breslau, ein allgemein
ärztlich und wissenschaftlich anerkannter Kliniker, ein
Nachfolger Minkowskis in der großen, weit nach Polen
und Rußland hineinwirkenden Tradition der damaligen
schlesischen Landeshauptstadt. Sein Forschungsgebiet
waren Magen-, Darm-, Verdauungs- und Stoffwechsel¬
krankheiten. Jedoch las er auch über natürliche Heil¬
weisen. Der nach außen kühl, zurückhaltend, absolut
sachlich, ganz sicher von wissenschaftlichem Impetus
erfüllte Mann hatte sich einen Stamm guter Mitarbeiter
geschaffen, die ihm und der Klinik persönlich anhingen.
Einer von ihnen übergab die Klinik der sowjetischen
Besatzungsmacht und ging für 10 Jahre in russische
Kriegsgefangenschaft, wo Verfasser ihn kennen lernte.
Er hielt seinen ehemaligen Chef für einen sehr verant¬
wortungsbewußten Arzt.
Bald nach Kriegsbeginn 1939 wurde Gutzeit beraten¬
der Internist und zwar beim Heeres-Sanitätsinspekteur
in Berlin. Die Einrichtung "beratende Ärzte" war kei¬
neswegs erst Ergebnis der Neuaufstellung der Deut¬
schen Wehrmacht in den 30er Jahren, sondern hatte
Tradition. Schon im 1. Weltkriege waren praktisch alle
Ordinarien entsprechenden Alters als "Beratende" in
ihrem Fachbereich eingesetzt wie z.B. Ludolf v. Krehl
bei der Armee des deutschen Kronprinzen an der West¬
front. Sie überwachten in der Heimat und an den Fron¬
ten alle ihr Fach betreffenden Vorkommnisse und waren
als Sanitätsoffiziere dem leitenden Korps- oder Arme¬
earzt unterstellt, dem sie zu berichten hatten, und der
als Weisungsberechtigter die sich daraus ergebenden
Anordnungen und Befehle gab.
Organisatorisch gehörten die beratenden Ärzte in¬
nerhalb der Sanitätsinspektion zur Amtsgruppe C der
"Militärärztlichen Akademie", deren Leiter der Gene¬
ralarzt Prof. W. Schreiber war. Diesen befördern die
Autoren des Artikels, um die Bedeutung der Hepatitis-
Forschung (Leberkrankheits-Forschung) zu betonen,
fälschlicherweise zum Präsidenten des mächtigen Reichs¬
forschungsrates, welcher dem Reichsmarschall Hermann
Göring unterstand. Präsident war jedoch Prof. Rudolf
Mentzel, während Schreiber als Leiter eines Arbeits¬
kreises sich lediglich "Bevollmächtigter für Seuchenfra¬
gen" nennen konnte.
Gutzeit als beratender Internist des Sanitäts-Inspek¬
teurs im Oberkommando des Heeres war "primus inter
pares", nicht Vorgesetzter seiner Kollegen bei den
Armeegruppen, Armeen und ggfs. Armeekorps, in glei-
17) "Der Wert des Menschen - Medizin in Deutschland 1918- 1945", Katalog
für die gleichnamige Ausstellung 1990, veranstaltet von der Berliner Ärzte¬
kamme r. (kein Herausgeber genannt) Berlin 1990 (Eidilion Hentrich), S. 261
- 315; dort: B. Leyendecker+B.E. Klapp, "Deutsche Hepatitis Forschung im
Zweiten Weltkrieg".
Historische Tals
13
Heinrich Himmler bei der Überprüfung der hergerichteten Konzentrat-<Not-)Verpfle-
gung. Rechts Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck, links SS-Gruppenführer Georg Lörner, Herbst 1943
in Hochwald bei Rastenburg/Ostpr., dem Feldquartier Heinrich Himmlers
eher Weise wie die Beratenden der anderen medizini¬
schen Fachgebiete. Gegen Ende des Krieges war er
Generalarzt. An seine wenig umfangreiche Dienststelle
hatten die Consiliarii der Truppenteile anforderungsge¬
mäß Berichte abzuliefern, hier wurden diese zusam¬
mengestellt, ausgewertet und zu einer Studie über die
Gesundheits- und Krankheitssituation des Gesamthee¬
res verarbeitet, welche über den Sanitätsinspekteur an
die oberste Wehrmachtsführung ging. Dem Erfahrungs¬
austausch der Beratenden, die ja nur lokale Eindrücke
gewinnen konnten, dienten Gemeinschaftstagungen und
Dienstreisen zu den nachgeordneten Einheiten bis hin¬
unter zu einzelnen Lazaretten bei besonderen Vorkomm¬
nissen. Die wissenschaftliche Bearbeitung führte zur
Erstellung von Vorschriften und Merkblättern, welche
einzelne Krankheiten betrafen und für die Sanitätsoffi¬
ziere verbindlich waren.
Ein Großteil der Ordinarien und leitenden Ärzte gro¬
ßer Krankenanstalten waren als Beratende oder Laza¬
rettchefs militärischerseits voll beansprucht, aber sie
kümmerten sich während des Krieges, wie aus vielen
Berichten ersichtlich, .nach Möglichkeit auch weiterhin
um ihre zivilen Verpflichtungen, die um so drängender
wurden, je größer der Personalmangel, die Materialien,
je stärker und je beklemmender die Zerstörung der
Städte durch Luftangriffe wurde. Hier konnte oft genug
nur der "alte" Friedenschef noch etwas erreichen und
richten. Hier zu helfen, gehörte zur allgemeinärztlichen
Verpflichtung.
Die Mitgliedschaft zur Partei oder einer ihrer Orga¬
nisationen ruhte während der Zugehörigkeit zur Wehr¬
macht völlig. Befehl vom 25.5.1940: Während des Krieges
ruht für alle Angehörigen der Wehrmacht die Mitglied¬
schaft in der NSDAP und
ihren Gliederungen (außer
SS.). Keine Mitgliedsbeiträ¬
ge.
Soweit der Rahmen; was
das jeweilige Fachgebiet
betrifft, so wurde es vielfach
der Friedenszeit gegenüber
in geradezu ungeheuerlicher
Weise ausgeweitet. Beim be¬
ratenden Internisten liefen
sämtliche Mitteilungen ein,
die innere Krankheiten mit¬
telbar und unmittelbar be¬
trafen, und es bekamen
Krankheitskomplexe, die in
Friedenszeiten keine Rolle
spielten, entscheidende Be¬
deutung für die Einsatzfa-
higkeit der Soldaten insge¬
samt wie auch für die Zivil¬
bevölkerung. Man hatte zu¬
nächst keine richtigen Ab¬
wehrmittel gegen sie und
mußte sie, die Kriegsseuchen,
während man Behandlungen
zu entwickeln versuchte, zu
gleicher Zeit doch auch schon bekämpfen, sollten sie sich
nicht allgemein verheerend auswirken. In dieser Hin¬
sicht befanden sich alle in den Krieg verwickelten Län¬
der in der gleichen Zwangslage.
Die im Bundesarchiv / Militärarchiv Freiburg i. Br.
einsehbaren Berichtbestände der beratenden Interni¬
sten von den Fronten an Gutzeit, den Beratenden der
Sanitätsinspektion in Berlin, machen deutlich, mit
welchen Einzelfragen er sich zu befassen hatte. Wenn
die Arbeit von Leyendecker / Klapp den Anschein er¬
weckt, das Problem Hepatitis habe im Mittelpunkt sei¬
ner Tätigkeit gestanden, so ist dies nach dem Gesagten
zu bestreiten, wenn er ihm als Gastroenterologe (Fach¬
arzt für Magen- und Darmkrankheiten) sicherlich auch
besonderes Interesse entgegengebracht haben dürfte.
Die massenhaft auftretende infektiöse Gelbsucht mit
unbekanntem Erreger, gegen welche es, anders als bei
Malaria, Ruhr, Fleckfieber kein effektives Verhütungs¬
oder Behandlungsmittel gab, war nun einmal eine au¬
ßerordentliche wissenschaftliche und ärztliche Heraus¬
forderung, wenn auch nur eine von vielen. 18 ’
Menschenverachtende wissenschaftliche Monoma¬
nie war sicherlich nicht das beherrschende Moment bei
den Hepatitisforschungen Gutzeits und seiner Mitarbei¬
ter, welche, wie ich aufzuzeigen versuchte, anderweiti¬
ge ärztliche Sorgen ohne Zahl hatten. Dies dürfte auch
für Prof. Friedrich Meythaler (1898-1967) zutreffen, der
als beratender Internist der Mittelmeerarmee im grie¬
chischen Raume diente. Er befaßte sich mit Hepatitis
nur zeitweis e, war aber u.a. ein besonderer Kenner der
18) S. Handloser, "Innere Wehrmedizin", Dresden-Leipzig 1944,S. 465 ff,
dort:. K. Gutzeit, "Magenkrankheiten".
19) S. Handloser, aaO., S. 277 ff, dort: F. Meythaler, "Malaria".
14
Historische Tatsachen Nr. 55
Malaria. 1 ®
Anders als die Genannten sind
Dr. Hans Voegt (1909 -1974), schon in Friedenszeiten
Assistent Gutzeits an der Breslauer Klinik und im
Kriege ihm als Stabsarzt militärisch unterstellt, und
Dr. Arnold Dohmen, in Friedenszeit am Eppendor-
fer-Krankenhaus in Hamburg bei dessen Internisten
Prof. H.H. Berg (1889) als Assistent 1941 habilitiert, im
Kriege zur Dienststelle Gutzeit kommandiert, als Hepa¬
titis-Spezialisten anzusehen; ersterer mehr klinisch,
der andere vornehmlich experimentell auf Tierversuche
mit Ausscheidungen u.s.w. von Gelbsuchtkranken spe¬
zialisiert. War Voegt einer der ganz wenigen deutschen
Arzte, welche schon damals Leberblindpunktionen vor¬
zunehmen wagten, so Dohmen derjenige, der das spezi¬
fische Virus, das nur vermutet wurde, nach Bakteriolo¬
genart nachzuweisen versuchte, obgleich Bombenschä¬
den seine Versuchsansätze mehrmals vernichteten.
Gutzeit, Voegt, wahrscheinlich auch Dohmen mach¬
ten Selbstversuche mit infektiösem Material von Gelb¬
suchtkranken.
Alle Genannten waren während des Krieges in ein
allgemeinverbindendes Netz eingespannt, welches der
Sanitäts-Inspekteur Prof. Siegfried Handloser 1944, wie
folgt, beschrieb: 201
"Denken und Handeln der Sanitätsoffiziere müssen in erster
Linie soldatisch und ärztlich zugleich ausgerichtet sein im Sinne
einer militärischen Gesundheitsführung, welche die Wehrkraft
zu erhalten und zu festigen hat."
Ein, so lange es Heere gibt, wahrscheinlich allgemein
bejahtes Postulat.
Dies zur Erhellung des menschlichen Hintergrun¬
des, mit dem gerade primär psychologisch denkende
Arzte sich befassen sollten, wenn sie humanitär an¬
spruchsvolle Themen in historisierende Verarbeitung
nehmen.
Doch nun von den Hepatitisforschem zur -forschung,
dem von den Personen abstrahierenden und vorgescho¬
benen Gegenstand der Arbeit von Leyendecker / Klapp.
Das militärärztliche Wissen, das auch dem allge¬
meinärztlichen Wissen über infektiöse Gelbsucht ent¬
sprochen haben dürfte, ist gegen Ende des Krieges in
Deutschland denkbar knapp. S. Handloser faßt es zu¬
sammen:
"..... Der Verdacht, daß es sich bei den gehäuften Gelbsucht¬
fällen, die auch schon in den ersten beiden Kriegsjahren zur
Beobachtung gekommen waren, um einen infektiösen Krank¬
heitsvorgang handle, konnte sich gegen die bis dahin gültige,
andersgerichtete Lehrmeinung nur sehr schwer durchsetzen.
Heute dürfte es so gut wie sicher sein, daß die Hepatitis conta¬
giosa eine Infektionskrankheit ist, wenn auch der Erreger und
der Ansteckungsweg noch nicht bekannt sind. Mit hoher Wahr¬
scheinlichkeit kommt als Erreger ein Virus in Frage, das durch
Tröpfcheninfektion unmittelbar von Mensch zu Mensch übertra¬
gen wird. Die Fragen der Inkubation und der Immunität konnten
weitgehend geklärt werden. Auch wurden Anhaltspunkte für die
verschiedenen Krankheitsformen sowie Richtlinien für die all¬
gemeine und diätische Behandlung und die militär-ärztliche
Beurteilung herausgegeben ." 2U
20) S. Handloser, "Innere Wehrmedizin", aaO-, Vorwort V.
Historische Tatsachen Nr. 56
Diese leider nur vage Erkenntnis beruht auf zahlrei-
chenUntersuchungen, von welchenjedoch Leyendecker
/ Klapp lediglich diejenigenherausgreifen und analysie¬
ren, mit denen sich ihrer Überzeugung nach nachweisen
läßt, daß sie unzulässig waren und gegen jegliches
ärztliches Ethos verstießen. Und dies waren eben die
von Gutzeit eingeleiteten, von Meythaler, Voegt und
Dohmen vorgenommenen Arbeiten, die angeblich ledig¬
lich irgendwie verschlüsselt der ärztlichen Öffentlich¬
keit bekanntgegeben wurden. Sie hätten in der medizi¬
nischen Universitätsklinik Breslau, in Lazaretten oder
Gefangenenlagern in Griechenland und schließlich im
Konzentrationslager Sachsenhausen an jüdischen Kin¬
dern stattgefunden oder seien für dort mindestens ge¬
plant gewesen.
Für Versuche, die ein Arzt an sich vornimmt, ist er
lediglich selbst verantwortlich; Versuche an anderen,
Gesunden und Kranken, unterlagen ihrer Be- resp.
Verurteilung für die Zeit, von der hier die Rede ist (1940
- 1944), den Richtlinien, welche mit Rundschreiben des
Reichsministeriums des Innern vom 28.2.1931 veröf¬
fentlicht wurden und die neuartige Heilbehandlungen
und die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am
Menschen betrafen. Im vorliegenden Falle kommen fol¬
gende Passagen für unsere Beurteilung in Betracht:
"Punkt 3.):
Unter wissenschaftlichen Versuchen . sind Eingriffe und
Behandlungsweisen am Menschen zu verstehen, welche zu For¬
schungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehand¬
lung im einzelnen Falle zu dienen und deren Auswirkungen und
Erfolge auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht aus¬
reichend zu übersehen sind Stets ist sorgfältig zu prüfen und
abzuwägen, ob die Schaden, die etwa entstehen können, zu dem
zu erwartenden Nutzen im richtigen Verhältnis stehen.
Punkt 7.):
Die ärztliche Ethik verwirft jede Ausnutzung der sozialen
Notlage für die Vornahme einer neuartigen Heilbehandlung."
Außerdem wird vermerkt:
"a.) Die Vornahme eines Versuches ist bei fehlender Einwil¬
ligung unter allen Umständen unzulässig....
c.) Versuche an Kindern oder jugendlichen Personen unter
18 Jahren sind unstatthaft, wenn sie das Kind oder den Jugend¬
lichen auch nur im geringsten gefährden."
Damit ist der Rahmen, der eine Beurteilung des
Verhaltens der genannten Ärzte ermöglichte, vorgege¬
ben. Selbst Heinrich Himmler, seit August 1943 Reichs¬
minister des Innern, änderte diese Richtlinien nicht ab.
Verstoßen nun aber die Versuche von Gutzeit und
Mitarbeitern effektiv gegen diese Richtlinien? Von Le¬
yendecker und Klapp bekanntgemachte Schreiben, daß
Versuche beabsichtigt oder geplant wurden, die keines¬
wegs rechtens waren, scheinen dies zu bestätigen. Aber
weder im Ärzteprozeß in Nürnberg (Dezember 1946 -
Juli 1947), noch im Sachsenhausen-Prozeß in Nord¬
rhein-Westfalen, Mitte der sechziger Jahre, in denen
über die Hepatitis-Forschung verhandelt wurde, kam es
zu einer Verurteilung, weil die Beschuldigten (Gutzeit
war 1957 verstorben) naeh Ansicht der Autoren die
Verantwortung für die Versuche mit Erfolg auf einen
21) S. Handloser, "Innere Wehrmedizin", aaO., Einleitung, S. 3.
15
Toten hätten abwälzen können, nämlich den Reichsarzt
SS und Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Prof.
Ernst Robert Grawitz, der sich im April 1945 im Keller
seines Hauses zusammen mit seiner Familie durch
Abschuß einer Panzerfaust das Leben genommen hatte.
Darüberhinaus kam es im genannten "Sachsenhau¬
sen-Prozeß" nicht nur nicht zu einer Verurteilung, son¬
dern sogar zu einer Einstellung des Verfahrens gegen
Dohmen.
Dies hindert die beiden Verfasser jedoch nicht, dar¬
auf zu beharren, der Arbeitskreis um Gutzeit habe
gegen die ärztliche Ethik verstoßende Menschenversu¬
che vorgenommen.
Bedauerlicherweise bedienen sie sich dabei eines
Verfahrens, das wissenschaftlich unseriös anmuten muß,
weil sie das Gesetz "audiatur et altera pars" gröblich
verletzen. Sie stützen sich auf die umfangreiche Aussa¬
ge des ehemaligen KL. Häftlings in Sachsenhausen
Bruno Meyer aus Hamburg vom 18.1.1965, in welchem
er Dr. A. Dohmen schwerstens beschuldigt, teilen aber
lediglich nebenbei mit, daß Dr. Dohmen seinerseits der
Staatsanwaltschaft eine 18-seitige Gegenstellungnah¬
me übermittelte, woraufhin es nicht zur Anklageerhe¬
bung, sondern, sicherlich nicht ohne persönliche Ein¬
vernahme des Beschuldigten, zur Verfahrenseinstel¬
lung kam. Deren Begründung konnten die Autoren (laut
Anmerkung 77 ihrer Publikation) für die vorliegende
Arbeit zwar noch nicht nutzen, aber sie unterstellen
ohne weiteres die Richtigkeit der Angaben Br. Meyers
und machen ihn zum Kronzeugen ihrer Hypothese.
Verfasser kennt leider ebenfalls die Einstellungsverfü¬
gung des Gerichtes nicht, vermag aber aus eigenem
Wissen und späterer erweiterter Erfahrung zur Fakten¬
beurteilung Einiges beizutragen. Er wird sich aber le¬
diglich zu Meyers Angaben äußern, da die Berichte über
die angeblichen Versuche in der Klinik an Kriegsgefan¬
genen zu wenig substantiell sind, als daß man sie auf
Rechtswidrigkeit hin prüfen könnte, auch beruhen sie
lediglich auf Äußerungen resp. Andeutungen der Be¬
schuldigten selbst, nicht aber auf solchen der Betroffe¬
nen.
Was Br. Meyer betrifft, so war er, wie in der Publika¬
tion zu lesen, von 1941 - Ende 1944 als Schutzhäftling
Nr. 61179 im KZ. Sachsenhausen (Oranienburg) inhaf¬
tiert. Im Sommer 1944 wurde er Blockältester in der
Krankenbaracke V, einige Monate später auch in Barak -
ke II, in welcher die aus dem KZ. Auschwitz angeblich
auf Veranlassung von Dr. Dohmen nach Sachsenhau¬
sen überstellten 11 jüdischen Kinder untergebracht
waren. Um diese hat’te er sich zu kümmern und ihre
Krankenblätter zu führen. Ende des Jahres wurde i hm
mitgeteilt, daß er aus dem KL. entlassen und zu einem
Strafbataillon, d.h. an die Front, versetzt werde. Dies
bekümmere ihn, gab er Dr. Dohmen zu verstehen, weil
er sich nicht mehr um diese Kinder kümmern könne.
Daraus geht deutlich hervor: Meyer gehörte nicht
zur vegetierendenHäftlingsmasse, war vielmehr "Capo"
und gehörte, wie man in Kriegsgefangenenlagern zu
sagen pflegte, zur gehobenen Häftlingslaufbahn mit den
dazugehörenden Vorrechten und Erleichterungen.
Der Gutachter wird sich deshalb sofort die Frage zu
stellen haben, aus welchen Gründen kam Meyer in das
KL., weshalb nahm er eine besondere Stellung ein und
weshalb wurde er aus dem Lager zu einer militärischen
Strafeinheit versetzt, deren meisten Angehörige im Einsatz
fielen. Es wäre zu eruieren, zu welcher Häftlingskatego¬
rie er gehörte, und inwieweit er etwa nach dem Kriege
noch Einblick in die Dokumente des KZ. Sachsenhau¬
sen hatte oder erhielt. Denn sein exzellentes Erinne¬
rungsvermögen viele Jahre nach den Geschehnissen -
der Bericht von ihm kam nach 15-20 Jahren zur Kennt¬
nis des Gerichtes — mutet merkwürdig an. Kaum
vorstellbar ist zudem, daß Meyer, der seinen Dienst bei
den jüdischen Kindern im Sommer 1944 antrat, wußte
oder hätte wissen können, daß diese bereits ein Jahr
zuvor zu "Sonderzwecken" hergebracht worden sein
sollen; denn der Wechsel innerhalb der Krankenbarac¬
ken dürfte, eigenen Erfahrungen zufolge, groß gewesen
sein. Eine besondere Eignung von Kindern für Hepati¬
tisversuche unter Hinweis auf negative oder unbedeu¬
tend positive Weil-Felix-Reaktionen (Fleckfieber) zu
unterstellen, ist abwegig.
Der Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Berichtes
verstärkt sich bei Prüfung der Angabe über die Leber¬
punktion, welche Dr. Dohmen bei einem der Kinder
vorgenommen haben soll.
Meyer beschreibt sie, wie folgt:
"..... Saul Homfeld mußte seinen Oberkörper entkleiden und
sich auf den Verbandstisch in der Mitte des Raumes setzen .
Dr. Dohmen . trat hinter Saul Hornfeld, tastete mit den
Fingern seinen Rücken ab, setzte die Sonde an und stach tief
durch die Rückenmuskulatur in die Körperhöhle des Kindes....
Da stach der Arzt zum zweiten Male zu . Dann sah ich, wie Dr.
Dohmen aus der Sondenröhre eine lange Nadel zog und schnell
ein Reagenzglas unter die Sondenöffnung hielt. Schweres dunk¬
les Blut tropfte in das Glas. Auch einige Stückchen Gewebe —
wohl aus der Leber gerissen - schwemmten mit hinein. Jetzt zog
der Stabsarzt die Sonde aus dem Rücken des Jungen . und
drückte schnell einen Tupfer auf die Wunde "
Es ist wenig verständlich, daß anatomisch vorgebil¬
dete Ärzte wie die beiden Autoren bei der Schilderung
einer Leberpunktion durch die Rückenmuskulatur ei¬
nes sitzenden Probanden hindurch nicht stutzten; denn
eine Blindpunktion, um die es sich hier handelte, wird
von der rechten mittleren Achsellinie im Zentrum der
perkutierbaren (mittels Abklopfen ermittelbaren) Le¬
berdämpfung unter Lokalanästhesie vorgenommen. So
gelingt es, mit Hilfe einer Spezialnadel aus der Leber
einen Zylinder herauszustanzen, der sich zur histologi¬
schen Untersuchung eignet. 221
Daß auch in der Entwicklungszeit dieser Methode
nicht anders verfahren wurde, dafür spricht Dohmens
ablehnende Haltung zu dem Verfahren, die er in einem
Brief (S. 277/278) von Februar 1944 auch damit begrün¬
det, daß bei von Dr. Voegt vorgenommenen 17 Leber¬
punktionen 2 x Bauchfellreizungen aufgetreten seien,
was für eine Nadeleinführung von vorne oder von der
Seite her spricht.
22) G. Schettler, (Hrsg.) "Innere Medizin”, Stuttgart 1972, Bd. 2. S. 182.
16
Historische Tatsachen Nr. 66
Noch aus einem anderen Grunde ist Meyers Bericht
anzuzweifeln, vermittelt er doch den Eindruck, als habe
Dr. Dohmen mehr oder weniger privat in das Konzentra¬
tionslager gelangen und sich darin relativ frei bewegen
können. Den Zutritt zu einem KL. genehmigten ledig¬
lich Himmler, Pohl, der Chef der Arbeitsgruppe D
(Konzentrationslager) des SS-Wirtschaflsverwaltungs-
hauptamtes, wobei auch die Lagerkommandanten ein
Wort mitzureden hatten, die die für den jeweiligen Tag
ausgestellten Ausweise sehr kritisch prüften. Es be¬
stand ein ausdrücklicher Befehl Himmlers, wonach es
selbst einem SS-Führer, so hoch sein Rang auch sein
mochte, nicht gestattet war, in ein KL hineinzulassen,
wenn er dort nichts zu tun habe. 23 ’
Weder der Reichsarzt SS noch das Ahnenerbe konn¬
ten einen Zutritt in ein K.Z. vermitteln, wie des öfteren
angegeben. 241 Die Befugnis dazu hatten allein die oben
genannten Stellen, wobei Himmler sich zwar nicht von
Anfang an, aber doch etwa seit 1943, allein die Genehmi¬
gung von Versuchen an Menschen vorbehielt.
Innerhalb des Lagers konnte sich kein Außenstehen¬
der ohne ständige Begleitung durch einen Kommandan¬
tur-Angehörigen bewegen; er war niemals unbeobach¬
tet. Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß Dr. Dohmen
zu seinen Untersuchungen zwar beim ersten Male in Be¬
gleitung des Lagerarztes, die folgenden Male aber im¬
mer allein so erscheinen konnte, als käme er zur Visite.
Daß Dr. Dohmen von sich aus einen Häftlingsarzt zu
seinem Versuch hinzuziehen konnte, ohne daß ein SS-
Arzt oder -Dienstgrad zugegen war, scheint ebenfalls
unwahrscheinlich.
Daraus ergibt sich die Unglaubwürdigkeit des Be¬
richtes von E. Meyer, des maßgeblichen Kronzeugen für
Leyendecker und Klapp.
Zusammenfassung
Leyendecker und Klapp ging es bei ihren Untersu¬
chungen über Deutsche Hepatitisforschung im Zweiten
Weltkrieg offenbar weniger um diese Seuche selbst als
um den Nachweis, daß maßgebliche deutsche Wissen¬
schaftler mit ihren Experimenten an Menschen ernst¬
lich gegen die vorgegebenen Grundsätze ärztlicher Ethik
verstießen. Sie hätten sonst zahlreiche andere engagier¬
te Forscher auf diesem Gebiet nicht unberücksichtigt
gelassen.
Aber dieser Nachweis wurde nicht erbracht. Es erge¬
ben sich vielmehr gravierende Zweifel an der Validität
ihres Beweismaterials. Das Thema sollte unter Beach¬
tung des Grundsatzes "Audiatur et altera pars" völlig
unvoreingenommen weiterhin diskutiert werden,Es ist
in jeder Hinsicht bedeutsam genug.
Cllrich Knödler: "Das Insulinproblem"-
Diese Persiflage, oder sollte man eher sagen, dieses
als wissenschaftliche Untersuchung vorgestellte, doch
mit Gehässigkeit durchtränkte Pamphlet (siehe Über¬
schrift) hätte Ulrich Knödler (Geburtsjahr 1948), nie¬
dergelassener Internist in Sindelfingen, forschend über
Alltagsprobleme der Medizin im Dritten Reich, wohl nie
zu verfassen vermocht, wenn er sich mit dem Untersu¬
chungsgegenstand umfassend vertraut gemacht und
nicht lediglich Literatur-Selektion betrieben hätte.
Was über das Insulin und über die Behandlung der
Zuckerkranken in der Kriegs- und Nachkriegszeit zu be¬
richten war, wurde nicht nur in den laufenden Publika¬
tionen ab 1940-1945 251 , sondern auch später umfassend
dargestellt und von allen Seiten her in seinen Auswir¬
kungen beleuchtet'
Bei dieser Sachlage wäre es an und für sich nicht
nötig, sich mit Ulrich Knödler eingehender zu befassen,
wären seine "Ermittlungen" nicht in einer von der Bun-
des-Arztekammer unterstüzten Publikation aus jüng-
23) Brief H.D. Roehrs an Dr. H. Fikentscher vom 25.12.1975 - Archiv Schenck.
24) Medizinische Well (Ärztliche Wochenschrift), 1973, S. 79, dort: F.K. Beller,
"Die Geschichte der Willow Woox State School".
25) E.G. Schenck, "Grundlagen und Vorschriften für die Regelung der Kranken-
eraähiung im Kriege", Berlin - Wien 1940 - 1942, ca. 150S., Aufl. 1 -4.
Diese Arbeit wurde jedem Arzt unentgeltlich zur Verfügung gestellt. — Dort
insb. S. 88 ff.. — Vgl. auch hier S. 22.
ster Zeit herausgebracht worden. Somit haben wir es mit
einer bundesweit-offiziellen "Desinformation" zu tun,
die nicht unwidersprochen bleiben darf.
Knödler bemüht sich fast Wort um Wort, den Ein¬
druck zu erwecken, die deutschen Ärzte, insbesondere
auch die z.T. international angesehenen deutschen
Diabetologen hätten es während des 2. Weltkrieges als
wesentliche Aufgabe angesehen, u.a. auch die Zucker¬
kranken derart mißzubehandeln, daß sie möglichst bis
zu einem ihrer letzten Atemzüge kriegswirtschaftlich
ausbeutungsfähig blieben oder im Falle, daß sie arbeits¬
untauglich waren, zugunsten der Arbeitenden schlech¬
ter zu stellen.
Um Heilbehandlung, um bestmögliche Optimierung
des Gesundheitszustandes ihrer Kranken ging es den
Ärzten des Dritten Reiches Ulrich Knödler zufolge nie¬
mals.
Demgegenüber soll betont werden, daß es im Bereich
der inneren Medizin von Mitte September 1939 an bis
zum 30. März 1945 keine andere Stoffwechelkrankheit
gab, mit welcher sachkundige Ärzte sich ständig derart
eingehend beschäftigten, wie mit den Diabetes millitus
(Zuckerkrankheit). Es ging um bestmögliche Diät, best¬
mögliche Insulinisierung, um Beobachtung von Krank-
26) Ulrich Knödler, "Das Insulinproblem", in: "Der Wert des Menschen —
Medizin in Deutschland 1918 - 1945”, Berlin 1989, S. 250 - 260.
17
heitsbild und -verlauf zum Besseren oder Schlechteren
hin unter den unumgänglichen Beanspruchungen und
Einschränkungen. Im umsichgreifenden Chaos des Jahres
1944 hieß es schließklich: rette man, wen man kann, und
helfe, wie nur irgend möglich, den Schwerstgefährdeten.
Hierfür sprechen zahlreiche Fakten, welche Knödler
nicht kennt oder nicht bringen will.
Nur einige davon sollen mitgeteilt werden:
Knödler stellt Mutmaßungen über die Zahl der Diabe¬
tiker an, folgt vagen Hochrechnungen. Doch: Am 15.
Februar 1941 wurden anläßlich einer Diabetikerzählung
im gesamten damaligen Deutschen Reich 164.127 Zuk-
kerkranke im Zivilbereich ermittelt. Die Zählung fußte
auf der Zahl der ausgegebenen Zulagekarten für D.m.
und dürfte im Großen und Ganzen zutreffen, da jeder in
ärztlicher Behandlung stehende Patient gezählt wurde
und natürlicherweise damals jeder bestrebt war, seine
Verpflegung aufzustocken. Die Anzahl der Diabetiker
(im folgenden D.), die im Militärdienst standen, dürfte
unerheblich gewesen sein, jedoch gab es sie.
Von der Gesamtheit der D. waren 71.991 männlich
(m.) 92.072 weiblich (w.). Jünger als 15 Jahre waren
2.207 (1.197 m.; 1.010 w.); im Alter von 16-50 Jahren
standen 39.146 (20.567 m„ 18.579 w.) über 51 Jahre
zählten 122.369 (49.708 m„ 72.661 w.). Unter diesen D.
befanden sich am 15.2.1941 = 1.644 (674 m., 963 w., 7
o.Ang.) Juden, die über das ganze Reich verteilt lebten,
wie die sonstige Gesamtaufgliederung aufzeigt, also von
vielen Ärzten Lebensmittelzulagen verordnet bekom¬
men hatten. Während des Krieges erhielten 40-43% der
D. Insulin, wobei ab 1938 eine Umstellung von Alt- auf
Depotinsulin, der Produktion entsprechend vorgesehen
war, welche - wäre es Frieden geblieben - voraussicht¬
lich 1941 abgeschlossen gewesen wäre. Die zweckmäßi¬
gere Verabreichung sollte bewirken, daß der Insulinbe¬
darf des einzelnen um 20-25% gesenkt werden konnte.
Im Gesamtdurchschnittt erhielt jeder D. täglich 45 Ein¬
heiten (E) mit Schwankungen in den verschiedenen Ärz¬
tekammerbezirken zwischen 26 und 66 E.
Die Insulin-Kontrolle oblag in jedem Staate der Welt
dem jeweiligen nationalen Insulinkomitee, was eine
welteinheitliche vergleichende Beurteilung der Präpa¬
rate ermöglichte. Die verschiedenen Depot-Insuline wur¬
den im Großen und Ganzen als wirkungsgleich beurteilt,
jedoch bevorzugte man in manchen Ländern gelegent¬
lich eine Sorte vor einer anderen.
Nebenbei nur sei bemerkt, daß Insulin in jener Zeit
keineswegs in Ampullen in den Handel, wie Knödler
meint, kam. Man erhielt es, da die Behandlung jeweils
mit unterschiedlich viel E, also verschiedenen Mengen
erfolgte, in Glasfläschchen zu 50 ml (Milliliter = 1 ccm),
die einen Gummistopfen trugen. Durch diesen wurde mit
der sterilen Nadel hindurchgestoßen und die gewünsch¬
te Menge in eine genau graduierte Spritze aufgezogen.
Das Fläschchen kam in den Kühlschrank, der Inhalt war
eine Reihe von Tagen haltbar. Dies nur zur Erläuterung.
Die deutsche Insulinproduktion war bekannt; sie betrug-
1938: 638,6 Millionen E
1939: 825,2 Millionen E
1940: 916,0 Millionen E
1941: 1.036,6 Millionen E
1942 : 1.123,7 Millionen E
1943 : 1.095,8 Millionen E.
Verfasser bemerkt, daß diese Zahlen richtig sind,
während Knödler in seinen Ausführungen (siehe Anm.
41 in seiner Arbeit) Millionen mit Milliarden verwech¬
selt.
Bis Mitte 1944 kam es zu einem Produktionsabfall
um 20-30%, zum Spätherbst hin dann fast zum völligen
Erliegen. Anfang 1945 waren alle Reserven, auch die der
Wehrmacht, aufgebraucht. Hatte bis Anfang 1944 die
Produktion, wobei Export und Import sich die Waage
hielten, für den Bedarf ausgereicht, so standen 1944 je
Kopf statt zuvor 44 E, nur noch 20-22 je Tag zur Verfü¬
gung. Jetzt bewährte sich die im April 1942 eingeführte
Insulinbezugskarte", welche Hamsterkäufe verhinder¬
te, aber eine im Rahmen des Erforderlichen stehende
individuelle Zuteilung garantiert hatte. Sie erleichterte
den von den Ärztekammern und Ärztlichen Bezirksve¬
reinigungen beigezogenen "Beratern in Diabetesfragen"
nach persönlicher Untersuchung eines jeden D. die
Entscheidung, ob ihm Priorität in der Weitergewährung
von Insulin zukäme oder es verringert resp. völlig abge¬
setzt wurde. Wurde Letzteres für unbedenklich gehal¬
ten, so wurden etwaige negative Auswirkungen der
Absetzung durch Verbesserung der Lebensmittelzula¬
gen nach Möglichkeit verhindert. Entscheidungen sol¬
cher Art, gegen welche übrigens seitens der Betroffenen
Einspruch erhoben werden konnte (2 ärztliche Instan¬
zen), machten den vielen beteiligten Ärzten große Sor¬
gen.
Der Bemerkung Knödlers, in unverständlicher Wei¬
se seien Krankenanstalten damals vom Insulinbezug
und damit von der D.-Behandlung ausgeschlossen wor¬
den, halte ich entgegen:
1. ) Zwang zur Behandlung eines jeden D. durch einen
erfahrenen Diabetologen,
2. ) die Tatsache, daß die Anstalten sich damals schon
zunehmend auf bestimmte Krankheiten spezialisiert
hatten.
Denke er doch an Rehabilitationsanstalten unter¬
schiedlichster Fach- und Unterfachrichtungen!
Doch soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben,
daß im März 1945, als nirgends mehr Insulin vorhanden
war, durch eine Schenkung der dänischen Firma Lilly
von 2 Mill. E. etliche Not gelindet werden konnte. Die
Hälfte wurde an die Berliner Diabetes-Zentrale gege¬
ben, je ein Viertel an die Kliniker G. Katsch in Greifs¬
wald für die Diabetiker-Anstalt auf Rügen und an Prof.
H. Reinwein in Kiel. Andere Wege standen nicht mehr
offen, Ärzte wurden als Kuriere eingesetzt.
Vordringlicher als die Insulinversorgung, welche
lediglich 40% aller D. betraf, war die sachgemäße Rege¬
lung ihrer speziellen Diät, was aus verschiedenen Grün¬
den nicht einfach war; denn eine an sich in Mangelzei¬
ten wünschenswerte einheitliche, d.h. das kranke Indi¬
viduum vernachlässigende Diät war bei der Unterschied¬
lichkeit der Krankheitsbilder und -Verläufe ärztlich
kontraindiziert (widersinnig).
Der große Wiener Kliniker W. Falta, schon seit 1919
18
Historische Tatsachen Nr. i
emeritiert, aber weiterhin führender Diabetologe, des¬
sen Stimme gerade im Kriege Gewicht hatte, äußerte:
ln der Diät können wir nicht schematisieren, sondern müs¬
sen individualisieren. Es gibt nicht eine optimale Diät bei
Diabetes, sondern viele optimale, deren Zusammensetzung von
dem jeweiligen Ernährungszustände, von der Art des Falles, von
dem Vorhandensein von Komplikationen und noch vielen ande¬
ren Faktoren abhängig ist."
Verfasser war verantwortlich für die Regelung der
Krankenernährung im Reichsgebiet von Kriegsanfang
bis -ende. Die organisatorische Grundlage bildete die
aus dem Zwang der Not in der 4. Woche nach Kriegsbe-
giim entstandene Abteilung "Krankenernährung der
Reichsärztekammer ". Es handelt sich weder um eine
Partei- noch eine Militär-, sondern um eine rein ärztli¬
che Einrichtung mit einem Personal von 2 - 3 Personen.
Der Leiter - Verfasser - war bis April 1940 vom Heer für
diese Aufgabe freigestellt worden, und behielt seine Tä¬
tigkeit, da sich kein Ersatz für ihn fand, auch bei, als er
dann zum Ernährungsinspekteur der Waffen-SS und
später der gesamten Wehrmacht ernannt wurde. Er
leistete die Arbeit ehrenamtlich und unentgeltlich, hatte
keine sonstige Funktion in der Reichsgesundheitsfüh¬
rung.
Der Bereich "Krankenernährung im Kriege" betraf
einerseits die Gesamtmedizin, andererseits die Gesamt¬
ernährungssituation des Volkes, erforderte also eine
enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Reichsmini¬
sterien.
In diesem Komplex war die Zuckerkrankheit ledig¬
lich eine von vielen, die eine besondere Ernährungsbe¬
handlung erforderte, aber auch ihr wurde die Zuwen¬
dung zuteil, die sie verdiente. Man wird kein Wort
finden, das die Zuckerkranken auch nur im geringsten
ärztlicherseits diffamierte. Da Ulrich Knödler jedoch in
opportunistischem Zeitgeisteifer gerade diesen Eindruck
erweckt, ist eine Erwiderung unter Vorlegung der Fak¬
ten unumgänglich.
7. Stoffroechfelerfranfungen
a) Diabetes mellitus
I. Sdjroierigfeiten:
Einheitliche Richtlinien für bie Seredjnung bet 2 ebensmittel 3 ulagen
Bei 3udertranfen fdnnen aus ben Derfdjiebenjten ©rünben nicht an¬
gegeben roerben,
1. roeil gerabe bet Siabetifer eine fjöchk 'inbioibuelle (EinftcHung auf
eine beftimmte Ernährung btaudjt,
2. roeil ein großer Seil bet 3uderfranfen nod) nicht auf eine richtige
Siät eingekeilt ift ober abet, wenn eingekeilt, fidj nicht biättteu
oerhält, b. b- roofil bie ihm gemährten 3 uiagen beanfprucht, fie
abet nicht 3 roedooll ausnufct, fonbern fie lebiglid) als 3 ufägliche
(Ernährung betrachtet,
3. roeil in bet Hr.itefdjaft feibft oetfchiebene «nieten übet bie ge-
eignetfte (Ernährung bet 3uderfranlen betrieben,
4. roeil ein Seil bet Seoölferung nicht oerftefit, ba& ein gut ge¬
nährter Siabetifer recht erhebliche gelt- unb gieifcfyulagen et-
hält, roähtenb ein abgemagerter ftranfer ober eine Sd)roangere
nur «Rähtmittel unb Wlild) jugeteilt erhält.
H-®t 3 tIiche «Infichten über bie ©tnähtung bes 3uder-
a) Sie llaffiidje Schule, fugenb auf ben therapeutifetjen ©r-
fenntntffen bet 2Jor-3nfulinära, erfttebt nach ®öglicf)feit 3ucferfrei-
heit im Sam unb einen annähernb normalen Slutjucferfpiegcl. Sie in
bet Wahrung oerabreitfjte ftohlehßbratmenge ift gering, bas ftalorien-
b«T*3it roirb butch ge» unb Eiroeig gebet», roobei entroeber oiel ©iroei%,
roenig gett, ober oiel gelt, roenig Eiroeifj oerabreicht roirb. Sie im
©emüfe enthaltenen ftohlehpbratmengen roerben mit einberechnet.
b) Sie neuere Schule erftrebt eine größere ©laftisität in ber
Ernährung, nennt ben Siabetifer „bebingt gefunb“ (ftatfd)), febt bie
Rrbeitsleiftung als ißofitioum in bie ftohlehobratbilanj.
©s roirb nicht mehr barauf gefehen, bafj bie ©efamtmenge ber ein¬
geführten ftofjlehpbrate oöllig unb ohne 3 u<ferausftf)eibung ausge-
nuht, fonbetn mehr barauf, bag eine gute ftohlebpbratbilanj enielt
rotrb (roenn oon 200 g_ 40 g im Sam ausgefcfjieben roerben, fo
ift bas für ben ftS.-Sausfjalt bes Organismus günftiger, als nenn
120 eingeführt unb oerbrannt roerben). Sas 3nfulin ift bas roiebtigfte
Hilfsmittel sur 93erbeiferung ber Sohlehpbratbilanj. Sie ftof)le-
hgbrate ber ©emüfe roerben nicht mitbereehnet. — Sie 3nfulinroirfung
auf bie ftohlehpbratbilan? ift abhängig oon ber gett- unb ©iroei'g-
3 ufuhr. ©leichjeitig hob« 5 «»- unb ©iroeigjufuht oerfefjlechtert, fett¬
arme, relatio eiroeigreiche ftoft beffert biefe.
Seibe Schulen: Ser Siabetifer tttug falorifeh fnapp ernährt
^roerben, an ber unteren ©ren 3 e bes Sebarfs; etroa 25 (bei arbeitenben
OTenfthen bis 30) Äal. je kg SoIIgetDicfjt. Ser fette Siabetifer mufeA
oerfuchen, auf fein Solfgeroicht (fooiel kg roie cm über 1 m) herunter-
3 ufommen. 3 e kg SoIIgeroicht 0,75—1 g Eiroeij) (tierifches unb pflanj-
Inhes 3ufammengenommen).
Siet foll nid)t ber einen ober anberen Schule bas «Bort gerebet
roerben. Sie oerantroortlidj prüfenben 8 r 3 te follen jebod) barauf hin-
geroiefen roerben, ba[j fid) eine ocrmcintli^e Ridjtungslofigfeit in ben
3ulageanträgcn für 3udetfranfe nicht nur aus ber inbioibuellen 23er<
fchiebenheit ber ftranfen, fonbern auch aus ber ber ältlichen Schulen
erflärt. ©ine Umftellung auf einheitliche Richtlinien roäre nitf)t'ohneeine
langroierige, foftfpielige unb im ftrieg überhaupt nicht burchführbare
Ernährungsumleitung ber Siabetifer möglich. 97ach beiben Verfahren
arbeiten 3 ahlreid)e erfahrene St 3 te'.
3‘boch muff betont roerben, bah eine fohlehobrafreidjere Ernährung
ber 3ucferfranfen, bie bei entfprechenber Einengung ber ge» 3 ufuht
nicht immer mit einer roefentlichen Erhöhung ber gnfulinäufuhr einher-
gehen muh, ben ©rforberniffen ber ftriegsernährung eher entfpridjt
unb besroegen bei ber Weueinftellung oon 3 uderfranfcn beoonuqt
roerben follte.
III. Worausfefcungen:
Sie flr 3 te ber ©enebmigungsftellen müffen, roenn fie bie 3utage-
anträge für Siabetifer oon oomfierein als berechtigt anerfennen rool-
len, folgenbe Rnforberungen ftcllen:
1. Cs mufc ein Siätplan oorgelegt roerben fönnen, ber Rusfunft
gibt über bie Sagessufuljt an flohlehijbraten in ©ramm
ober SBeigbroteinheiten.
(1 2B23E.= 12 g Stärfe = etroa 50 ftal.)
an gelten in ©ramm,
an © i ro e i fj in ©ramm unb in gieifdj, Quart, ftäfe.
2. Sie ©efamttagesmenge ber 3uderausfcheibung im Hrin muß an¬
gegeben fein. (Sie Eingabe Iebiglich ber 3 uderfon 3 cntration ohne
bie Sarnmenge ift oöllig roertlos, unb bie ‘ßrojent 3uder im
Sam befagen nichts.) — Rsetonförper im S acn ?
3. bie (ich aus 1 unb 2 ergebenbe ftohIebgbratbiIan 3 .
4. 33 lut 3 uder; bei SBieberholungsanträgen nicht u n b e b i n g t not-
roenbig.
5. ber ©efamtfalorienbebarf aus ©röfje unb Sollgeroidjt.
6 . bie Sähe ber täglichen ^nfulinbofis.
Ruf ©ranb biefer Rngaben muh bie Söh* ber 3ulagen an gett,
gieifch, Quart ober ftäfe ober Eiern errechnet roerben foroie bie
SJlenge Srot, bie nicht aufgenommen roerben fann unb bafjet als
Rquioalent für bie anberen 3ulcujen ein 3 U 3 iehen ift. Sie 3udcrfarte
ift in jebem gall ein 3 ubehalten. 3 ut Surchführung oon Safertagen
ift gegen 3 u teilung oon Währmitteln eotl. noch eine entfprechenbe
SJlenge Srot ober HJlehl in Rbsug 3 U bringen (für 100 g Saferfloden
= 100 g 33rot).
19
(Ss fiat jtd) als feßr 3 roedmäßig erroiefen, roenn bie (Beurteilung ber
todiroere eines Diabetes unb bet notroenbigen 3ulagen für Diabetifer
f- 3ir ' en ein * ei,Ii « burtf ' Sad,är 3te erfolgt, bie
«nt.» ® e ^‘i te 6 , e|onbere ®if“5ningen aufroeifen. Die meiften
tr 3 tefammerii ßaben bereits «erster biefer «rt ßin 3 uge 3 ogen.
IV. Die Söcßft 3 ulagen:
« et ß™J id > au , 5 bem ®°fÖ«gefagten, baß bie §öße ber 3ulaqen
abhängig ifr oon bem ©rab ber ftoßleßpbrattoleram.. Die°S5ße
bedingen fann babei über biefür bie «nberenftranN
ßettsgruppen gültiger. §5djftinerte ber (Ricßtlinien bin =
ausgeßen, unb es eroeift fid) ab unb 3 u aud) notroenbiq
meljr als brei ber als Zulage in ftrage fommenben
l6iU9 ' 6 ' n ' ia m
•JK** lfl "" an 9fnommen roerben, baß felbft bei einem nießt in
ftationarer Se^anblimg befinblicßen Patienten mit feßr fd)roerer
3uaerfranfbeit mit einer
3ulage oon 500 g gieifd) (©efamtmenge bann 1000g)
:: ;;SSfs| ( - * •»»* >**•*««
(ober 500gQuarf)( „ 312 5 g)
„ oon 5 Eiern
»'« b « So» fein, Jo wirb btt Dotitnl
jroedmaßig auf eine ßoßere Jtoßleßgbratmenge eingeftellt.
Dinfiefifor! J.® e '^m Uer ber “ r, ^*^ en 23eid)einiqungen fann bei
Diabetifern bis 3 u 6 Monaten betragen. Die fiöcßLit fann ohne
m -- rben ’ ® enn ber S> ia6 «>« feßort längere 3eit he¬
il/ alfrriEtl tf , 6eJ ' i3 ' Unb n,en " bct ««nfe bem
ci, als 3 UDet la[fig befannt ift. 3n anberen fällen bei neu auf ihr»
3 roedrnäbia ei bfe e äUDcrlnfficjen Kranfcn, roirb man
3 roedma6tg bie ©ultigfeitsbauer 3 unätbft auf 3 Monate feftlegen.
V. Sonftiges:
mirb für benOTinter imwVulü ?inen Erfaß bes
oom 28. Oftober 19.0 (®e W3 . IIA 2 -*
V - e r rr ,m r ° mmenben ®'"‘er insgefamt a^tjefjn
iern^ri,!.. m i- ef0nf ' rucn au5 9 t 9 eBtn - ®<« 3ufe«Iung auf bie Son-
5Ä If. lÄ" “ n6 f*J tt - ® ie %b9abt bet *»»1««" «folgt
Ir L®SCn*„1T ,9S I1' ,ne " ber ® rn “brungsämter. Di. 3 u<ter.
fteClaffm sVT 6 ' l » anbeInbtn **lt ‘ine Seßßemigung aus-
fa l ?*4«» b *I«b* «Jt reicht bie 'Bereinigung ber juftänbiqen
II 3 1 b — 73» ( “ e ' 9lcirf|e meinen ® tla B DOm 30. Oft. 1939,
mit funcr yilTirnnni 11 * ?'<^ en i^ i9Un9sB * IIe 9 ' 61 bit »»Wemigung
me ter bl nl t-i (ä 'l " & ' ,ücmortst '') «« b « Ernährungen,!
oo"-iiffi aus — alfo ohne 6efonberen meiteren 'Antrag bes
S £ «W,?““’*«»»■»! 00» 1.. Stanloi «total,!.
0«| St« O„,0)tt«L;nq5lr«, ln i,t Ij„l, 0 l, n , in 2 „ irt 6 , - ,
Ära« ri? 1 “ 111 !! I" 3" S™*WM<Wdm it
ol S i',S,?£S"‘l. 1 Ä >»" »“»«»»«•»■i" tarn ®nj<IMnbta
t»A7 , A1- *' , '? 11 : y " «“«" ™ O»i!lo»s 5»t timfl.
bfttten SSa’ ■»#« leim RMtonjit
S?»2KV h Vi'i" 1 ”’ ” *” mi l "" S
Dritten -IWcfinitt biele, (Erfaffes 3 u erteilenben Seiuq unb ©roRberua-
Jeinen ausäultellen^oruf ben Se,ug, unb ffiroßbetugreinen ift link oben
in u Quer ,<arbe aiirtubruden ober mit -Blouitift . iu jebreiben. 3n
•■M r if? U ?. f4ein 3Um ' au5bluif 3“ Gingen, baß „nadj
9HogIi(f|feit SBeigble^boten" geliefert merben folten.
Die ©rogbejugfdjeine finb bis jum 28. Dejember 1040 ben §er[teltern
oorjulegen.
Der Cinjetbänbler (ebreibt auf ber Quittung, bie er ausgeiteilt bat, bie
oom $ejugsbere<btigten bejogenen Doien ab. Der Sejugsbereibtigte ift
nid)t oerpfirtet, bie bejtellten Dofen auf einmal abjunebmen; er foll
jeboib bie Dojen, fomeit es [id) um S^marsbleibboien banbeit, fpäteitens
bis jum 24. gebruar 1941 unb, |oroeit es fitb um 2BeiBble<bbo[en banbeit,
fpäteftens bis jum l.Sßai 1941 abnebmen.
Den 3uderfranfen fallen, fomeit möglitb, aBeipletbbofen jugeteilt
toerben. 91aib OTögliibteit iollen aud) ihre SBünfibe auf 3uteilung be=
[timmter ffiemüieforten berüd[icbtigt roerben.
3« Orten, in benen eine Ausgabe oon ®emü[elonieroen an bie Se*
oölferung niibt ftattfinbet, fann bas ffirnäbrungsamt im Senebmen mit
ber örilid)en Serufsoertretung bes ffiinjelbanbels beftimmen, baß 3udcr-
franfe bie Semüfetonferoen nur in bejtimmten einjelbanbelsgeftbäften be«
jieben fönnen.
«Eine jufäbüibe Ausgabe oon Äonferoen an anbere
ftrenfe fann ntibt erfolgen.
SPtalßfaffee ift für ben 3ucferfranfen nit^t f^äblitö unb ^at
feine ungünftige SBirfung auf ben fto^Ieöobratbausbalt, mie oielfa^
behauptet roirb. Die ftot)IeI)!)brate bes ftaffees bleiben im Sobenfa^,
tm ©etränf felbft finb jtur not^ Spuren enthalten.
SItarmelabefür Diabetifer fann nur auf bie ÜJlarmelabenfarte
bc 3 ogen toerben (Mitteilung bes IReidisernäljrungsminifteriunis oom
lö.gebr. 1940 unb oom 15.Oft. 1940). Die Marmelabenfarte ift bem
3u<ferfranfen bestoegen nii^t 3 u ent 3 ie^en, jebot^ finb bie 3mfer‘
abfdinitte ab 3 utrennen unb auf ben Marmelabenfarten bie SBorte
„ober 3u<fer" 3 u ftreit^en.
2Iuf (Reifen fann ber 3utferfranfe, ber an eine ftrenge 3nnc«
yaltung feiner Diät gebunben ift, in ©aftftätten aud) an fleiftbfreien
-tagen gleifdj erhalten.
?Ius bem ©rlafe bes 9l2Jti f. ©. u. 2. ((5efr^3. H/l b —400/40)
oom 4. dJlär 3 1940.
(Erleiiftternng für bie Serpflegung 3uderftanfer an fleiftbfreien lagen
„«us «nlaf) eines Cinjelfalles ift mir oorgetragen toorben, baß bei
3uderfranfen, bie buriß ißren Seruf oon ihrer ÜBoIjnung ferngehalten
(J. 35. oielfad) auf «eilen) finb, bie Einhaltung bes oorgefifiriebenen Diät¬
planes baburd) erfd)inert mirb, baß fie an fleifthfteien lagen in ©aftftätten
feine gieifdjgerithte erhalten fännen. Da hei fernerer 3uderfranrheit bie
genaue Einhaltung bes Diätplanes oon entfdjeibenber Sebeutung fein fann,
fwbe ich mid) in bielem Einjelfall, unter ber Sorausfeßung, baß bie ju-
ftänbige ärjtlidje ©enehmigungsftelle unb bas juftänbige Ernäßtungsaint
bie «otmenbigleit bejahen, bamit einneritanben erflärt, baß ber betreffenbe
llranfe burtß bas juftänbige Ernährungsamt eine Sefdjeinigung folgenben
3nhalts erhielt:
. ‘ n -mirb ßirrmit auf ©runb Ermächtigung bes
«enhsminifters für Ernährung unb 2anbmirtfd)aft befeßeinigt, baß mit
«üdfiißt auf bie befonbere «rt feiner ttranlßeit (3udertranfheit) unb
bie bureß feinen Seruf bebingte häufige «bmefenheit oon feiner «Job-
nung auch “R fleifcßfreien lagen ^leifchfpeifen gegen «bgabe ber ent-
fpreeßenben 3I‘ifä)mar(en an ihn abgegeben toerben bürfen. 1
Dabei habe id) bie «uflage oorgefeßrieben, baß ber ftranfe bort, mo Diät-
fueßen befteßen, naeß ‘Dtöglidjfeit biefe auffuißt.
Es befteßen reine Sebcnfen bagegen, baß in gleicßliegenben fjällen oon
ben Ernaßrungsämtem in gleicher JBeife oerfaßren mirb. Die «usnaßiiien
finb mbeifen auf roirtlicß bringlidje gälle ju befeßränfen. Die ÜBirtfißafts.
gruppe ©aftftätten- unb Seßerbergungsgemerbe ßabe id) unterrichtet. 1 '
SnfuHn [teßt aus inlänbifcßer Erjeugung in ßinreießenber Menge
'cm " et f Ö9l f n 9> i‘ b ocß foll es nur in bem unbebingt notroenbigen
Maße unb in erftcr fiinie für 3u<I«ftanfe oerroenbet roerben. Mit
«usnaßnte ber Seberf^ußbeßanblung Jollen 3nfulinmaftfuren unb bie
3n|u!inf<ßodtßerapie möglicßft burd) anbere «erfaßten erfeßt roerben.
3m Saufe ber 3eit finb ferner bie Diabetifer naeß Möglicßfeit auf bie
mobernen unb anerfannten Depotinfuline (Surpßen-, «rotamin*3inf-,
Stcfio>3nfuIin) um 3 ujtellen, ba babureß eine ^nfulinerfpatnis bis 3 u
Vj bes ©efamtoerbraucßs erhielt roerben fann.
Daß auch in Sonderfällen speziell an die D. gedacht
wurde, bezeugen weitere Regelungen, die z.B. die Ver¬
sorgung mit Malzkaffee (Bohnenkaffee gab es sowieso
nicht) oder die Verpflegung der D. in Gaststätten, auf
Reisen oder an fleischfreien Tagen betrafen. 25 »
Wie schwierig es war, die genannte Zulagenregelung
bis zum Kriegsende beizubehalten und die unterschied-
20
liehen, z.T. auf den Kriegserfahrungen beruhenden
einschränkenden Vorschläge im Expertenkreise der Dia-
betdlogen so auszugleichen, daß möglichst allen Fach¬
leuten und auch Diabeteskranken Gerechtigkeit wider¬
fuhr, mögen nachfolgende Ausführungen vermitteln
124a 271
Mengenmäßig machen die Zulagen für Diabetiker
wohl mit am meisten aus. Wir müssen dieser Erkran¬
kung deshalb besondere Aufmerksamkeit schenken, da
die Diabetiker im Ausgleich für den Verzicht auf Zucker
und Brot = Fleisch und Fett zusätzlich erhielten - auch
wenn sie wohlgenährt erschienen und deshalb der Beob¬
achtung der Nachbarn in besonderem Maße ausgesetzt
waren.
Auch die Prüfarzte sind von dieser kritischen Ein¬
stellung den Diabetikern gegenüber nicht frei und kürz¬
ten häufig die verlangten Zulagen, was einen sorgfältig
ausbalancierten Diätplan natürlich vollkommen um-
werfen kann. Andererseits habe ich oft genug gesehen,
\ daß lediglich der Nachweis von Zucker im Harn Grund
genug war, die höchstmöglichen Zulagen zu beantragen.
I Die Prüfärzte sind bei Diabetikern also in einer beson¬
ders schwierigen Lage. Sie sollen einem anerkannten
Diabetesbehandler gegenüber Vertrauen haben, jedoch
von diesem verlangen, daß er Zulagen wirklich nur in
der notwendigen Höhe beantragt und das alte, klassi¬
sche Gebot beachtet, daß der Diabetiker kalorisch (kalo¬
rienmäßig) knapp ernährt werden soll.
Unstatthaft ist die Forderung einzelner Prüfer, daß
der Zuckerkranke zur Einsparung der Fleisch- und Fett¬
zulagen mit Insulin behandelt werden solle. Auch die In¬
sulinbehandlung muß durch Art und Schwere des Dia¬
betes begründet sein; sie ist nicht ohne Weiteres beim
Diabetes als solchem angezeigt. Abgesehen davon steht
uns ja auch Insulin nicht in beliebiger Menge zur Verfü¬
gung. 281
1944 29 '
In den letzten Monaten des Krieges wurde nun auf
Grund der Erfahrungen der vorangegangenen Jahre
von klinischer Seite Stellung zu verschiedenen Fragen
der Ernährungsbehandlung genommen:
"Nonnenbruch und Falta, ebenso Wolff betonen, daß es bei
Diabetikern in der Mehrzahl der Fälle möglich sei, ohne Erhö¬
hung der Insulindosen auf eine Diät einzustellen, welche den Zi¬
vilversorgungssätzen entspricht. Infolgedessen soll die Gewäh¬
rung von Fett- und Fleischzulagen in der bisherigen Höhe nicht
mehr erforderlich sein. Auf diesem Standpunkt stand seit Beginn
des Krieges bereits Kötschau, während andere Kliniker (Urner,
Grafe) diefestgelegten Zülagemengen zunächst nicht als ausrei¬
chend ansahen, auf Grund der Erfahrungen sich aber doch zu
ihnen bekannten. Einen vermittelnden Standpunkt nahmen u.a.
Bürger, Greiff, Grote, Katsch ein, die dazu neigten, unter mög¬
lichster Erweiterung der Kohlehydrattoleranz die Fett- und
Eiweißzulagen an der untersten möglichen Grenze zu halten.
27) "Die Krankenernährung im Kriege, Ziel und Weg", 1940, Heft 6 (allgemeine
Grundlagen)
28) "Krankenernährung im Kriege", Heft 10 der Schriftenreihe der Reichsarbeits-
gemeinsdiaft für Volksernährung, Leipzig 1941, S. 28 ff.
29) Deutsche medizinische Wochenschrift, Berlin 1944, S. 68, dort: EG.
Schenck, "Diaetetik im Kriege".
Nach den vorliegenden Mitteilungen scheint erwiesen, daß
die meisten Diabetiker auf eine eiweiß- und fettärmere Kost
umgestellt werden können, und es erhebt sich die Frage, ob
daraufhin die für Diabetiker vorgesehenen Zulagen gekürzt oder
gestrichen werden sollten. Diese Maßnahme würde vorausset¬
zen, daß alle in Frage kommenden Diabetiker klinisch auf die
neue Diät umgestellt werden müßten, was zur Zeit nicht durch¬
führbar ist, - sie würde auch eine nicht voraussehbare Verände¬
rung des Insulinbedarfs bewirken. -
Diese Gründe veranlassen uns nach eingehenden Bespre¬
chungen zu der Stellungnahme: Die Zulagen für Diabetiker
werden einstweilen bis zur Beibringung eines größeren Tatsa¬
chenmaterials nicht geändert. Jedoch wird erwartet, daß die
Höchstzulagenmengen, die wie alle entsprechenden Zulagen im
Laufe derZeit aus Höchst- zu Normalzulagen wurden, bei allen
Diabetikern nun auch wirklich als Höchstzulagen angesehen,
d.h. nur bei solchen Kranken gewährt werden, die sie nachweis¬
lich benötigen; das werden, wie unsere Erfahrungen zeigen,
gewöhnlich nur sehr schwere Diabetesfälle sein. Weisungen zu
besonders kritischer Prüfung der beantragten Zulagen ergehen
an die Prüfstellen der Ärztekammern mit dem besonderen Hin¬
weis, nach Möglichkeit besondere Diabeteskenner als Berater
heranzuziehen. Überschreitungen der Sätze erscheinen nicht
mehr erforderlich ."
Die, wie zugegeben werden muß, z.T. mühevollen
Diskussionen mit maßgeblichen und führenden Diabe¬
tologen, denen Einsicht in die Gesamternährungssitua¬
tion des Volkes im Allgemeinen und die Insulinschwie¬
rigkeiten im Besonderen fehlen mußte, weil sie ja in
ihren Kliniken überbeansprucht waren, führten in kei¬
nem mir erinnerlichen Falle zu ernsthaften Gegensät¬
zen, vielmehr zu Kompromißbemühungen.
Ihr Ergebnis ist folgende Erklärung aus dem Jahre 1944
(Schenck 1944):
"Grundsätze für die Erhaltungskost
der Diabetiker im Kriege
Kalorienzufuhr: In Höhe der Ration der entsprechenden
Alters- und Leistungsgruppe mit einem Zuschlag von 10 bis
höchstens 30% entsprechend der Schwere des Zustandes und der
bleibenden Glykosurie (30 - 35 Cal/Kg) (Kalorien/Körpergc-
wicht).
Eiweißzufuhr: 0,7 - l,0g/Kg: niedriger bei übergewichtigen
Kranken und bei Greisen; Zufuhr über 1,0-1,75 gfiir jugendli¬
che Diabetiker und solche, die infolge einer Sekundärerkran¬
kung (meist Lungentuberkulose) einen höheren Eiweißbedarf
haben, ferner auch bei Schwer- und Schwerstarbeitem.
h ettzufuhr: 0,7-0,9g/Kg. Größere Mengen bei Sekundärer-
krankungen (Tbc., Thyreotoxikose). Eine zufettreiche Diät führt
zu einer Herabsetzung der Ansprechbarkeit auf Insulin; die
regulativen Vorgänge können durch fett- und eiweißreiche Kost
gestört werden. (Banse, Bartelheimer).
Kohlenhydratzufuhr: in der zur Abdeckung des noch beste¬
henden kalorischen Defizits erforderliche Höhe: 4-5 g/Kg.
Bei stärkerer Insulinverknappung und einer infolge von
Insulinkürzungen verringerten Kohlehydrat-Toleranz zunächst
Steigerung der Eiweiß-, bei sehr starkem Absinken auch der
Fettzufuhr.
Die Kriegserfahrungen an alten Menschen ergaben, daß
diese mit größeren Fettmengen besser zu erhalten sind, als mit
Hiitorwche Tatsachen Nr. 56
21
größeren Kohlehydratmengen; darum wird man bei alten Men¬
schenjenseits des 60. Lebensjahres Fett gegenüber Kohlenhy¬
drat bevorzugen.
Diabetiker in reduziertem Ernährungszustand werden zweck¬
mäßig mit Kohlenhydrat-reicher Ernährung und entsprechend
gesteigerter Insulindosierung zunächst in das Kohlenhydrat-
Gleichgewicht und sodann in einen möglichst geringen Eiwei߬
umsatz gebracht. Nach Stabilisierung des Stoffwechsels Aufbau
von Organeiweiß durch vermehrte Eiweißzufuhr, die sich dem
Eiweißumsatz anzupassen hat.
Adipöse (fettleibige) Diabetike mit einer Minimum-Ernäh¬
rung versorgen.
Die Einstellung der Diabetiker soll "lebensecht" erfolgen,
Arbeitsleistungen und Arbeitszeiten berücksichtigen: Nachtar¬
beiter, Wechsel von Tag- und Nachtschichten."
Als es mit dem Zusammenbruch der Insulinproduk¬
tion unmöglich wurde, die Insulinabhängigen D. in glei¬
cher Weise zu versorgen wie noch 1943, wurden die ver¬
antwortlichen Ärzte vor eine schreckliche Aufgabe ge¬
stellt, nämlich die, die Dinge entweder laufen zu lassen
und die Tür zur brutalen Selbstbesorgung nach dem
Motto zu öffnen: "Besorge sich, wer noch kann" . oder
aber den voraussehbaren Schaden möglichst zu begren¬
zen. Letzteres erforderte eine sehr individuelle Betreu¬
ung der einzelnen Kranken, weshalb die Errichtung
"Ärztliche Berater in Diabetesfragen” forciert wurde.
Eine Aufzählung der Maßnahmen, die bis in den März
1945 hinein ergriffen wurden, um Unmögliches möglich
zu machen, würde zu weitfiihren. Deshalb sei auf das Li¬
teraturverzeichnis verwiesen.
Die deutschen Diabetologen befanden sich nicht, wie
Knödler unterstellt, in dieser Lage außerhalb der Tradi¬
tion und der international anerkannten Lehrmeinung;
er möge sich hierüber etwa bei E.P. Joslin, L. Lichwitz,
S. Thannhauser u.a. unterrichten. Es ist jedenfalls un¬
angebracht, jene deutsche Diabetologen verdächtig oder
lächerlich zu machen, die im Kriege wirklich um das
Wohl ihrer Patienten rangen und die verschiedensten
Hilfsmöglichkeiten prüf¬
ten. Der verdienstvolle G.
Katsch, der die Stadt
Greifswald bei Kriegsen¬
de vor Zerstörung be¬
wahrte, war in den 30er
Jahren der erste, der eine
Anstalt zur lebensechten,
lebensgerechten Einstel¬
lung der Zuckerkranken
gründete und damit ei¬
nen Prototyp für die erst
3 Jahrzehnte später ge¬
gen mannigfache Wider¬
stände eingerichteten Re¬
habilitationskliniken u.a.
schuf. Ihm "nazistischen
Sinneswandel" vorzuwer¬
fen, da er Zuckerkranke
zunächst "bedingt krank",
dann "bedingt gesund"
nannte, ist abstrus und nichts Gegensätzliches. Mit letz¬
terem Ausdruck machte er Mut, richtete seelisch auf,
nahm Angst, mit ersterem warnte er die Kranken und
ihre Umgebung vor Überbeanspruchung und falscher
Lebensführung. F. Umber, Vorsitzender des Deutschen
Insulinkomitees, war deshalb kein Diabetespapst, son¬
dern bedeutender Kliniker.
Und Verfasser, den Ulrich Knödler zwecks Verun¬
glimpfung in seiner militärischen, vom zivilen Sektor
völlig getrennten Dienststellung vorstellt, "kam schlie߬
lichgar auf den Gedanken, dort Insulin einzusparen, wo
es für die Kriegswirtschaft am leichtesten zu verschmer¬
zen war." Deshalb sollte für "die über 50-Jährigen" die
Insulinzuteilung reduziert werden.
Nun, auf diesen Gedanken kam er ganz und gar
nicht; vielmehr konnte er sich auf umfangreiche Erfah¬
rungen in Deutschland und anderen europäischen
Ländern stützen. Daß im Rahmen letzter verbliebener
Möglichkeiten hilfsentsprechend gehandelt wurde, wird
wohl auch daraus ersichtlich, daß in der Nachkriegszeit
bis 1950, als der Mangel noch größer wurde als 1944/45,
und die "Naziideologie" sicherlich keine Rolle mehr
spielte, weiterhin nach den Richtlinien und Regeln
verfahren wurde und werden mußte, die in der Kriegs¬
zeit erarbeitet worden waren (H. Bertram, H.A Hein¬
sen).
Hätte man nur im entferntesten an "Aussonderung
und Tod - Die klinische Hinrichtung der Unbrauchba¬
ren" gedacht, so hätte man sicherlich nicht immer wie¬
der betont, daß die Insulindosis bei den unter 15 Jahre
alten Kindern, die die Gruppe der schwerstkranken
Diabetiker bildeten, auch 1944/45 nicht gekürzt werden
dürfe; gleiches galt auch für die tuberkulösen Zucker¬
kranken.
Der Wert der zuckerkranken Menschen wurde kei¬
neswegs von den Ärzten, die sie während der Jahre
1939-1945 verantwortlich zu versorgen und zu behan¬
deln hatten, in Frage gestellt!
Au( einem deutschen Hauptverbandsplatz In Rußland. Die Ärzte waren ständig überforden.
Der Gegner dort achtete das Rote Kreuz ebensowenig wie
die westlichen Luftgangster über den deutschen Städten.
Überblick über damalige diesbezügliche Publikationen
Schenck, E.G. "Grundlagen und Vorschriften für die Regelung der
Krankenemährung im Kriege", Berlin - Wien 1940, Auflg. 1 - 4 ca. 150
S. - Jedem Arzt seitens der Reichsärztekammer ex officio unentgelt¬
lich zur Verfügung gestellt.
"Die Krankenemährung im Kriege Ziel und Weg" = Schriftenreihe
der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksemährung - Leipzig, 1940
Heft 6. (allgemeine Grundlagen)
Schriftenreihe Die Reichsgesundheitsführung
"Leitfaden für die Truppenemährung und -Verpflegung"
"Krankenemährung im Kriege", Heft 10, Leipzig 1941,S.28u.f.f.
"Erhaltung leicht verderblicher Nahrungsmittel”, Berlin 1942
"Allgemeine und ärztliche Indikationen für die Gewährung von
Nahrungsmittelzulagen für Kranke", Deutsches Ärzteblatt, 1943, S. 50
- 60 (Neuere Erfahrungen und Richtlinien)
"Zur Frage der Sonder- und Konzentratverpflegung der Waffen-
SS”
"Diätetik im Kriege" in Deutsche medizinische Wochenschrift,
1944, S. 68 u. f.f. (Diskussion über Emährungsprobleme)
"Richtlinien für die Überprüfung der Insulinbedürftigkeit der
Zuckerkranken", Rundschreiben Reichsärztekammer vom 30.6.1944.
"Merkblatt für Zuckerkranke", Sommer 1944 (an sämtliche Ärzte
zur Weitergabe)
Schenck, E.G. (Hrsg.), "Praktische Ergebnisse der Diabetesfor¬
schung im Kriege" in: "Theorie, Geschichte und Praxis der Ernährungs¬
behandlung". Stuttgart 1945, Bd. 3. (Der gesamte korrigierte Drucksatz
des Buches mit Beiträgen zahlreicher Diabetologen wurde bei einem
Bombenangriff vernichtet.)
"Ärztliche und organisatorische Maßnahmen zur rationellen Be¬
handlung der Diabetiker und zur Einsparung von Insulin", Deutsches
Ärzteblatt 1945 Heft 1/2. (letzte erschienene Ausgabe)
Nachtrag hierzu vom 20.3.1945 ein Rundschreiben (nur noch in
Berlin verbreitet.)
"Erfahrungen mit der Behandlung der Zuckerkranken im Kriege",
19.3.1945.
Chronisch Kranke --
nicht behandlungswürdig?
Das Büchlein "Medizin im Dritten Reich", herausge¬
geben von der Bundesärztekammer und der Kassen¬
ärztlichen Bundesvereinigung, schließt mit Fridolf Kud-
liens "Bilanz und Ausblick". Wie bei zahlreichen Dar¬
stellungen im genannten Buch wäre auch in diesem Ab¬
schlußkapitel vieles richtigzustellen. Hier soll jedoch
nur zu einem Problem Stellung genommen werden, über
das Verfasser dank eigenen Mitwirkens Bescheid weiß:
die Behandlung der chronisch Kranken während der
Kriegsjahre.
Kudlien meint, man solle, soweit noch möglich, Pa-
tienten-Erfahrungen aus dem "Dritten Reich" in genü¬
gender Breite sammeln und interpretierend auswerten.
Ein besonderes Interesse würden dabei die chronisch
Kranken, also dauerhaft funktionsgeschwächte Men¬
schen (beispielsweise Fälle von schwerem Rheuma, schwe¬
rem Diabetes) verdienen. Nach den "rigiden Vorstellun¬
gen und Forderungen jenes totalen Staates und der rigi¬
desten Form von NS-Alltags-Medizin, der sogenannten
Neuen Deutschen Heilkunde" hätten solche Krankhei¬
ten ja eigentlich, zumal in Kriegszeiten, gar keine ärzt¬
liche Behandlung verdient gehabt (" Gesundheit ist Pflicht,
Krankheit ist Pflichtvergessenheit").
Wie sah es in der damaligen Lebenswirklichkeit mit
ihnen aus?
Diese Frage kann, was die Allgemeinbehandlung
und ärztlichmedikamentöse Versorgung der chronisch
Kranken betrifft, beantwortet werden, ohne daß man
Patientenaussagen über die damalige Zeit zu sammeln
braucht. Selbst der interpretationsfreudigste Forscher
unserer Tage wäre wohl außerstande, ein Bündel per¬
sönlicher Schilderungen über weit zurückliegende
Epochen zu einer Aussage von wissenschaftlichem Wert
zu verdichten.
Der Weg zur Erkenntnis ist wesentlich einfacher und
wissenschaftlich sicherer; man muß nichts anderes tun,
als sich Publikationen aus den Kriegsjahren vorneh¬
men, welche die Regelungen und Vorschriften u.a. auch
zur Versorgung der chronisch Kranken enthalten und
für Ärzte wie Kranke verbindlich waren.
Verbindlichkeit besagt:
a) behandelnde Ärzte übten in bestimmten Berei¬
chen, wie z.B. der Krankenernährung, ihren Patienten
gegenüber eine Hoheitsfunktion aus,
b) Kranke konnten gegen ihrer Meinung nach un¬
richtige Verordnungen Beschwerde erheben und eine
Überprüfung durch eine übergeordnete Stelle verlan¬
gen, was immer wieder geschah.
Sie waren also keineswegs ärztlichen Verordnungen
rechtlos unterworfen und ihrer persönlichen Mitwir¬
kung an der Wiederherstellung ihrer Gesundheit be¬
raubt.
Einen Zeitzeugen, der während des Krieges auf zahl¬
reichen Gebieten als Arzt praktisch, organisatorisch
23
und wissenschaftlich hatte tätig werden müssen, wun¬
dert: die überwiegende Anzahl der Medizinhistoriker
die den Anspruch erheben, das Gesundheits- und Sani¬
tätswesen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durch¬
torstet zu haben, behandeln die meisten Komplexe der
Medizin zur Zeit des Dritten Reiches entweder nicht
oder nur wenige und diese noch selektiv - "interpretato-
nsch , d.h. faktenunabhängig - in einer Deutschland
diffamierenden Weise. Pflichtübung auch für Medizin-
histonker in dem freie(ste)n deutschen Staat, um akzep¬
tiert und gedruckt zu werden?
Fndolf Kudlien diskriminiert die deutsche Ärzte¬
schaft insgesamt. Bei der erforderlichen Entgegnung
empfiehlt es sich, wie auch er es tut, von den chronischen
Krankheiten auszugehen. Diese erscheinen mir deshalb
besonders geeignet, weil es sich bei deren Behandlung
nicht lediglich um Medikamentenverabreichung han¬
delt welche ein NS-Mediziner, ohne sich auffällig zu
machen, klamm-heimlich hätte einstellen können, son-
dern um weit mehr, nämlich um ärztliche Einwirkung
auf die Lebensgestaltung anvertrauter und sich dem
Arzt anvertrauender Menschen.
Das Beispiel Zuckerkrankheit ist besonders treffend
weil der Arzt bei der Einstellung eines Diabetikers auf
einen optimalen Zustand höchst individuell zu verfah-
ren und gleichsam zugleich mit 3 Besserungsmöglich¬
keiten (Ernährung, körperliche Leistung, Medikament)
zu jongheren hat, wobei auch regionale Gegebenheiten
(in Königsberg andere als in Wien) zu berücksichtigen
waren und sogar im Kriege berücksichtigt worden sind
Unablässiger Einwirkung war kein Ende gesetzt; der
ständig mit Kriegswidrigkeiten kämpfende Patient mußte
bei der Stange gehalten werden, wobei die Situation in
dem Maße schwieriger, schließlich verzweifelter wurde
wie sich die Versorgungslage zum Schlechten wandte
und Nahrungsmittel und Insulin nicht mehr allgemein
ausreichend zur Verfügung standen. Die ärztlich-orga¬
nisatorischen Bemühungen, zu retten, was zu retten
war, liefen nachweislich bis zum 30. März 1945.
Vor diesem Hintergrund sei Fridolf Kudlien mit
nachdrücklichem Ernst entgegengehalten:
Daß Zuckerkrankheit, rheumatische Erkrankungen
oder etwa die Basedowsche Krankheit, Infektionskrank¬
heiten (wie Tuberkulose, Scharlach, Diphterie) Niere¬
nentzündungen, Leber- und Gallenleiden Ergebnis von
Pflichtvergessenheit der Erkrankten seien, lag als ab¬
strus außerhalb der Vorstellungswelt damals tätiger
Arzte. Eine "rigideNS-Alltagsmedizin", welche Kranke
und Arzte trennte, wurde wohl einige Male von an der
Menschlichkeit vorbeiagitierenden Funktionären gefor¬
dert, die z.T. nicht den Äsculapstab trugen, setzte sich
aber nicht durch. Blickt man auf die Medien, so findet
man auch heutzutage Postulate recht ähnlicher Art und
aus verschiedenen Ecken.
Mir sind die Euthanasiemaßnahmen, die während
des Krieges in Heil- und Pflegeanstalten durchgeführt
worden sind und die ausschließlich auf die Kriegsbedin-
^ngen denon sich Deutschland ausgesetzt sah, zu-
ruckzufuhren waren, bekannt. Ich persönlich halte sie
für Verbrechen. Diese kritische Beurteilungsweise gibt
mir indessen das Recht darauf hinzuweisen:
1J In den Friedensjahren von 1933 - 1939 hatte sich
im Dritten Reich trotz Rassenbewußtsein und Pflege
eugemscher Gesichtspunkte ein Euthanasiethema nicht
gestellt.
2.) Eine NS-Alltags- und Allerärzte-Medizin der Art,
daß der Arzt zunächst zum Hakenkreuz auf- und danach
zu seinem Patienten hinabschaute, gab es ebensowenig
wie eine machtvolle "Neue Deutsche Heilkunde" Dies
war vielmehr eine nach dem Modell "Deutsche Physik"
geprägte, inhaltslose Sprechblase, die seit Kriegsbeginn
nicht mehr gebraucht wurde und keinesfalls zum allge¬
mein ärztlichen Wortgut gehörte.
Nun zum Beweis der Irrealität Kudlien'scher Unter¬
stellungen und zu den Fakten, welche auf Nationalso¬
zialismus und Medizin spezialisierte Historiker zu über¬
sehen belieben:
Bereits zum 1. April 1940 erschien eine seitens der
Reichsärztekammer an sämtliche Ärzte im Reich ko¬
stenlos verteilte Broschüre:
"Grundlagen und Vorschriften für die Krankener¬
nährung im Kriege". Sie faßte die im ersten Kriegshalb-
jahr aHerorten an tausenden von Fällen gesammelten
Erfahrungen und mit dem Reichsernährungsministe¬
num verfahrensmäßig getroffenen und als Erlasse her¬
ausgegebenen Vereinbarungen, was die Ernährung der
Kranken betraf, flächendeckend zusammen. Sie trug
verbindlichen Charakter und erwies sich als dringend
notwendig; denn bis gegen Weihnachen 1939 waren
schon etwa 5 Millionen Anträge auf Lebensmittelzu-
wendungen für Kranke gestellt und von freiwilligen
Prüfarzten neben ihrer Praxis bearbeitet worden. Die
Schnft erreichte bis 1942 vier Auflagen, später erfolgte
die Anpassung an die Allgemeinsituation durch Veröf¬
fentlichungen im Deutschen Ärzteblatt.
Man mag unterstellen, daß es sich bei diesen Vor¬
schriften eher um diktatorische als ärztlich begründete
Maßnahmen handelte; dies trifft nicht zu, da alle Rege¬
lungen nach Absprache mit erfahrensten Ärzten und
Wissenschaftlern unter Berücksichtigung der jeweili¬
gen Versorgungslage getroffen wurden, und sich z B
Diabetologen als Berater weniger erfahrener Ärzte zur
Verfügung stellten. Sämtliche Kranke, so war es ärztli¬
ches Grundgesetz, sollten ernährungsmäßig gleich ver¬
sorgt werden.
Kudlien unterstellt, man habe chronisch Kranke als
pflichtvergessene Selbstschädiger "im medizinischen NS-
Alltag" nicht berücksichtigt und nicht wie erforderlich
behandelt. Wie abwegig dieser hier zum Ausdruck ge¬
brachte Unfug ist, belegt die auf S. 19 - 20 wiedergege¬
bene Dokumentation.
Als unverfänglicher Zeuge, der vom 3. Reich nur
Ungutes zu erwarten hatte, worauf seines Schutzes
wegen an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden
soll, möchte ich den Internisten Dr. A.E. Lampe aus
München zu Worte kommen lassen: 30 '
30) Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, München, Heft 8, August 1941: "Die
Ddusche Rundschau"
24
kranke, die man heute unter dem Begriff Typ I. Diabetes
zusammenfaßt und die zur Lebenserhaltung auf Insulin
angewiesen sind. Wäre es in Angleichung an das mörde¬
rische Verfahren bei Lebensunwerten und Lebensun¬
tauglichen in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten
nicht auch für die "rigide NS-Alltagsmdezin" selbstver¬
ständlich gewesen, damals bei den jugendlichen Diabe¬
tikern das für andere so dringend benötigte Insulin ein¬
zusparen und sie — es handelte sich um mindestens
2.500 Jungen und Mädchen — ihrem Schicksal zu über¬
lassen?
Im Sommer 1944 wurde an alle Diabetiker ein
"Merkblatt für Zuckerkranke" verteilt, mit dem sie über
die Schwierigkeiten bei der Insulinversorgung unter¬
richtet wurden, um ihnen verständlich zu machen, daß
sie vielleicht nicht mehr ihre bisherige Insulin-Dosis
erhalten könnten, was durch entsprechende Lebensmit¬
telzulagen ausgeglichen werden würde. In diesem Merk¬
blatt steht nun — und danach wurde ärztlicherseits
verfahren:
a ) Kinder bis zum 15. Lebensjahr dürfen nicht oder nur
nach entsprechender Umstellung in einem Krankenhaus im
Insulin gekürzt werden, da es sich bei ihnen durchweg um
schwere Fälle handelt .
b.) In der Altersstufe zwischen 15 und 50 Jahren stehen
knapp 25% aller Zuckerkranken und im Durchschnitt mehr
Männer als Frauen. Die Männer sind mehr gefährdet, und im
allgemeinen sind die jüngeren Diabetiker dieser Gruppe schwe¬
rer krank . Hier muß besonders individualisiert werden .
N icht vergessen darf werden, daß die Hausfrau heule ebenfalls
eine körperlich und geistig anstrengende Arbeit zu leisten hat
und entsprechend berücksichtigt werden muß, besonders wenn
sie etwa außerdem noch berufstätig ist..... " 331
Man möge bei dieser Darstellung bedenken, daß die
unter schwierigsten Kriegsverhältnissen durchgehalte¬
ne Versorgung der Diabetiker in gleicher Weise und mit
gleichen Begründungen bis in das Jahr 1950 hinein
beibehalten wurde, und daß die heutige Diätbehand¬
lung lediglich zeitgemäß, aber nicht grundsätzlich an¬
ders ausgerichtet ist. 341
So umfassend sorgfältig wie der Zuckerkranke brauch¬
te der Rheumakranke, bei dem andere Methoden der
Heilbehandlung vordringlicher sind, ernährungsmäßig
nicht beachtet zu werden. Jedoch dachte man auch an
ihn:
6. Getenkcrkrinknngen
Kranke mit »kufem Gelenkrheumatismus werden nach Abkltnnen
der Erscheinungen wie „Rekonvaleszenten" behandelt.
. K ' anl ' e "]it Arthrosis deformans, primär chronischer Polyarthri-
t.s rheumatica deformierenden Gelenkerkrankungen kSnnen
bei Betroflensein nur weniger Gelenke Zulagen nicht erhalten, heim
Pefallenseui vieler und großer Gelenke, erheblicher oder hoch¬
gradiger Abmagerung und gleichzeitiger Systematischer Behand¬
lung kann verfahren werden entsprechend „Unterernährung".
Jede auszehrende Krankheit wurde entspre¬
chend der wissenschaftlichen Lehrmeinung er¬
nährungsmäßig gewürdigt:
33) Deutsches Ärzteblatt, Berlin 1945, Heft 2
34) Internist, April 1990: "Weiterbildung Diabetes melliter”.
ß) Thyreotovlkose, Morbus Basedowtl
Zulagen: 750 g Nährmittel, 3*/il Vollmilch, bis zu 250g Fett,
500 g Brot, 5 Eier
gegen Abgabe der ganzen oder Halben Fleischkarte.
Gültigkeitsdauer: 12 Wochen.
k--- /
Natürlich gibt es Krankheiten, bei deren Erwerb
Sorglosigkeit und damit im strengsten Sinne des Kud-
lien-Wortes Pflichtvergessenheit eine Rolle spielt. Die
ausgiebige Diskussion der AIDS-Krankheit in unseren
Tagen liefert ein lehrreiches Beispiel, da Konsequenzen
ähnlich wie damals gefordert werden.
Für die damalige Zeit könnte man in dieser Hinsicht
die Tuberkulose anführen. Sie beruht ja auf Ansteckung
durch einen anderen von außen her. Zahlreiche Fürsor¬
ge-, Tbc-Beratungsstellen und Schriften verbreiteten
Kenntnisse über Schutzmöglichkeiten, Gefahrenquel¬
len usw..
Laut Kudliens Vorstellung vom medizinischen "n.s.-
Alltag" hätten die Tuberkulösen wegen ihres Verstoßes
gegen die Gesundheitspflicht ärztliche Behandlung nicht
verdient, und er möchte untersucht wissen, wie dies in
der Praxis ausgesehen habe.
Nun, in den Unterlagen, die seinerzeit offiziell her¬
ausgegeben worden waren, ist an keiner Stelle die Rede
von Eigenschuld an der Krankheit und von einzuschrän¬
kender Versorgung, sondern im Gegenteil - entspre¬
chend den bis zur Mitte unseres Jahrhunderts herr¬
schenden Lehrmeinungen — von zu verordnender Ruhe
und reichlicher Verpflegung. So wurden die Tuberkulo¬
se-Heilstätten mit Ernährungszulagen wesentlich bes¬
sergestellt als alle sonstigen Krankenhäuser. Die in
häuslicher Pflege befindlichen Lungenkranken und ins¬
besondere auch die diabetischen unter ihnen erhielten
die höchsten Nahrungsmittelzulagen für die längsten
Zeiten, die insgesamt gewährt wurden. Hierzu heißt es
im Erlaß des RMEuL vom 4.3.1940, der gemeinschaft¬
lich mit der Reichsärztekammer erarbeitet worden war:
"Bei Tuberkulose, Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Al¬
terserscheinungen (nicht bei akuten Erkrankungen alter Leute),
sonstigen Krankheitszuständen, bei denen mit Rücksicht auf die
Art und lange Dauer der Krankheit (z.B. bei Folgen von schwe¬
ren Verletzungen aus dem Weltkrieg, dauernder Beeinträchti¬
gung der Körperfunktionen durch schwere Operationen, unheil¬
barchronische Erkrankungen) eine Besserung nicht zu erwarten
ist, kann die Bescheinigung der ärztlichen Genehmigungsstelle
auf eine längere Zeit, höchstens jedoch bis zu 6 Monaten, bei
Personen über 70 Jahre bis zu einem Jahr erstreckt werden,
wenn der ärztliche Befund es rechtfertigt."
Dies geschah, um entstehende Unbequemlichkeiten
und Kosten zu verringern.
Historische Tals
i Nr. 55
26
Die "Plantage" im Konzentrationslager Dachau
-- ein Spielplatz für Mörder?
In den Berichten über das "Vorzeige-KZ" Dachau,
welches ungezählten deutschen Prominenten und aus¬
ländischen Ehrengästen wenigstens bis 1939 demon¬
striert wurde, spielte die "Plantage”, d.h. die außerhalb
des Lagers am Rande des Dachauer Moores in der
Gemarkung Prittelbach gelegene Anlage von Heil-,
Gewürz- und Farbpflanzen eine beachtliche Rolle. Sie
war 1937 auf besonderen Wunsch des Landwirtes Hein¬
rich Himmler entstanden, der - so Oswald Pohl 1941 -
trotz politischer Arbeit, trotz Büro und Bürokratie seine
bäuerliche Wesensgrundlage nicht verloren hatte, in
der Absicht, "Schutzlagerhäftlingen Gelegenheit zu geben,
sich in freier Natur nützlich zu machen und zu betäti¬
gen". 3 ®
Ratgeber Himmlers bei der Anlage waren der be¬
kannte Gartenarchitekt und Anhänger der biologisch¬
dynamischen Anbauweise Alwin Seifert und ein Wün¬
schelrutengänger mit Professorenrang, der die Eignung
des Geländes für den gewünschten Anbauzweck bestä¬
tigte. Während des Krieges ging dann die Organisation
des Anbaus und der Drogenverarbeitung in andere
Hände über. Aus einer Schau- wurde eine Fabrikations¬
anlage.
Verständlicherweise finden sich in den zahlreichen
Häftlingsberichten über die Plantage keine substan¬
tiell-fachlichen Mitteilungen, sondern vornehmlich
Äußerungen über dortige Erlebnisse. Bei deren Analyse
stellt sich freilich heraus, daß sie nur selten von Augen¬
zeugen selbst stammen, sondern auf Erzählungen aus 2.
und 3. Hand beruhen.
Da aber gerade fachliche Daten zur Beurteilung des
in der Plantage Geschehenen wesentlich sind, möchte
ich im folgenden über einen Vortrag des Leiters der
Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpfle¬
gung berichten, der diese Voraussetzungen erfüllt und
sonst wohl kaum noch greifbar sein dürfte. 3 ®
Dem Vortrag zufolge wurde 1938 außerhalb der La¬
gerumzäunung mit der Kultivierung von 7,5 ha Moorbo¬
den begonnen, wozu ein Gärtner (SS-Mann) und 10
Häftlinge benötigt wurden. Die eigentlichen Kulturen
wurden aber erst im Frühsommer 1939 angelegt. Jedoch
sistierten die Arbeiten seit Kriegsbeginn, da militäri¬
sche Maßnahmen die Verlegung der Häftlinge fiir Monate
in andere Lager erforderlich machten. Die Arbeit wurde
erst im Frühjahr 1940, und nunmehr in größerem Umfang
wieder aufgen ommen. Da die Nachfrage nach Gewürz-
35) Oswald Pohl, Geleitwort zu dem rein fachlichen Buch von K.O. Bäcker/R.
Lucaß, "Der Kräutergarten'', Berlin, o.J. (1940).
36) Vogel, "Die Anlagen der Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Ver¬
pflegung in: "Die Vitaminversorgung der Truppe", Arbeitstagung von
Reichsgesundheitsführung, Heer und Waffen-SS am 30.9.1942 ich Dachau
- Schrift nur für den Dienstgebrauch.
und Teekräutern sowie Gemüse (für den Lagerbedarf
selbst) rapide stieg und sich neue Aufgaben stellten.
Die Anfang 1942 erreichte Anbaufläche von 11,25 ha
wurde eingeteilt in: 2 ha für Lehrkulturen mit ca 1.000
verschiedenen Heil-, Gewürz- und Teepflanzen; 0,75 ha
für das Reichsortenregister (im offiziellen Auftrag), 4 ha
für die Aufzucht von Jungpflanzen, davon 3 für Gladio¬
len, 1 ha Bienenweide, 0,5 ha Farbpflanzen, 3 ha Kom¬
postierungsfläche. Dazu kam die Gemüsegärtnerei für
den Bedarf von Lager- und Wachmannschaften. 15.000
Sträucher schwarzer Johannisbeeren grenzten die ein¬
zelnen Flächen von einander ab. Bis Ende 1942 entstan¬
den ferner 6 Gewächshäuser, 1.500 Treibhausfenster,
Trocknungsanlagen (4-Band-Trockner) und eine Ge¬
würzmühle.
Während 1938 10 Häftlinge, 1939 kaum welche in
den Kulturen gearbeitet hatten, waren es 1942 täglich
etwa 1.000. Von diesen waren ca. 40% körperlich wenig
beansprucht, da sie im Büro, im Zeichenatelier, in den
Gewächshäusern oder der Fabrikation - 5-10 Mann im
Forschungslabor des Instituts für Heilpflanzenkunde
-- tätig waren.
Auf diesem Gelände arbeiteten mit den Gefangenen
zusammen 1938 = 1, 1942 aber 57 Zivilangestellte, die
mit der SS nichts zu tun hatten (kaufmännische Ange¬
stellte, Techniker). Außer dem SS-Führer, der die Anla¬
ge leitete, und wenigen seiner Mitarbeiter hatte kein
Angehöriger der Wachmannschaften Zutritt.
Das Ganze entwickelte sich schnell zum Erwerbsun-
temehmen, das Sämereien und Setzlinge im freien Handel
verkaufte. Die Preisliste von 1942 enthält 406 Positio¬
nen. Im Atelier wurden Pflanzenaquarelle angefertigt,
u.a. ein Sammelband zum 40. Geburtstag von Himmler.
Übrigens wurde durchgesetzt, daß jeder der 5 oder 6 dort
beschäftigten Künstler seine Bilder signieren durfte.
Das sogenannte "Prittelbacher Pfeffergewürz", Er¬
satz für den zur Mangelware werdenden echten Pfeffer,
war eine Komposition des kurz vor dem Kriege aus den
USA zurückgekehrten homöopathischen (nicht akade¬
mischen) Arztes Reinhart, eines honorigen Mannes, der
m.W. sein Rezept unentgeltlich zur Verfügung gestellt
hat.
Ab 1941 wurden auch Produktionen von kriegswich¬
tigen Pflanzenstoffen begonnen und bis 1944 ausgewei¬
tet, die den - ungefährlichen, ja ihnen z.T. Vorteile brin¬
genden Einsatz von Häftlingen in etwa rechtfertigten.
Es drohte nämlich ein zunehmender Mangel an Vitamin
C (Ascorbinsäure), besonders bei der Feldtruppe mit
ihrem nach damaligem Wissensstände erhöhten Be¬
darf.
Die großen pharmazeutischen Fabriken Merck/Hoff-
Himtoriachc Tatsachen Nr. 56
27
mann / La. Roche, die den Jahresbedarf von ca 200 T für
das Heer mit synthetischem Vitamin hätten decken
sollen, wurden durch Luftangriffe immer wieder stillge¬
legt und blieben weit hinter dem Soll zurück. Man mußte
auf das aus Pflanzen zu gewinnende Vitamin zurück¬
greifen und die entsprechende Erzeugung ankurbeln.
Die Hauptbenutzer einigten sich: Die Reichsgesund¬
heitsführung wandte sich der Hagebutte, das Heer der
Sanddornbeere und die Waffen-SS der Gladiole zu,
nachdem Versuche, Vitamin C aus Gras zu gewinnen’
gescheitert waren. Die Waffen-SS war im Vergleich
gesehen hierbei am erfolgreichsten, da nach umfangrei¬
chen Vorversuchen aus dem Preßsaft bestimmter Gla¬
diolensorten ein Pulver mit hohem (ca 10%) und stabi¬
lem Vitamingehalt gewonnen wurde. Es spielte dann bei
der Truppenverpflegung eine beträchtliche Rolle. 371
Unter Ausklammerung dieser Verhältnisse vermerkt
W. Wuttke-Groneberg beispielhaft für viele andere Nach¬
kriegsliteraten:
"Bis 1940 war dieses Kommando eines der schlimmsten im
KL Dachau. Die Jahre 1938,1939 und 1940 waren die Aufbau-
jahre. 429 mußten ihr Leben lassen. Die Plantage fraß ihre
Opfer. Kein Kommando in Dachau in diesen Jahren kostete
solche Opfer. Daraus ist die Härte ersichtlich.
Für 2 Gruppen war dieses Kommando ein Todeskommando:
Für die Zigeuner und die Juden. Sie waren hier bei der Fron
erschossen, mit Gewehrkolben erschlagen oder zu Tode geprü¬
gelt worden oder auch an der Schubkarre zusammengebrochen.
Jedes Stück Boden war besudelt mit dem Blute geschlagener und
erschlagener Häftlinge. ~ Die Häftlinge konnten später errei¬
chen, daß die Plantage das begehrteste Kommando wurde und
ein Stützpunkt des Widerstandes. " 38 >
Gegen diesen und andere Berichte sind erhebliche
Zweifel angebracht. Generell wurden die Zigeuner erst
1942 auf Befehl des Reichssicherheitsdienstes verhaf¬
tet. Sie können also nicht schon bis 1940 in der Dachauer
Plantage gearbeitet haben. Außerdem ist es unwahr¬
scheinlich, daß 1939 dort Mordaktionen stattgefunden
haben, da die Arbeit eingestellt war. Pfarrer Goldschnitt,
ein weiterer Augenzeuge, war laut Bischof Neuhäusler
erst am 16.12.1942 nach Dachau gekommen 39 ', konnte
also von angeblichen Greueln nur aus Gesprächen, nicht
aus eigenem Erleben Kenntnis haben.
Nun ist aber Lagerüberlieferung selten ernst zu
nehmen, wie ich aus eigener 10-jähriger Gulag-Erfah¬
rung sehr genau weiß.
Richtig dagegen ist Wuttke-Gronebergs Bemerkung,
daß die Plantage später - d.h. wohl ab 1941/1942 ~ ein
höchst begehrter Arbeitsplatz und Zentrale des lagerin¬
ternen Widerstandes wurden
Am 21.4.1 1942 befahl Hi mm l er, daß alle inhaftierten
deutschen, holländischen und norwegischen Geistlichen
in den Heilkräuterkulturen einzusetzen wären. Polni¬
sche und litauische Geistliche kamen nicht in den Ge¬
nuß dieses Privilegs (als solches war es gedacht) und
konnten zu a llen Arbeiten herangezogen werden. In
37) Vortrag Tr. Friedrich, ' Vitamin C Gewinnung aus Gladiolen' in schon
genannter Schrift, "Die Vitamin Versorgung der Truppe", 1942.
38) W. Wuttke-Groneberg, ” Medizin im Nationalsozialismus - ein Arbeits¬
buch", WUrmlingen 1982, S. 191 - 192.
39) Josef Neuhäusler. "Wie war das im KZ DachauT, München 1960.
allmählich lagerinterner Aufweichung der Berufsgren¬
zen kam es dazu, daß sich die "Intelligenzia" unter den
dort Arbeitenden anreicherte, und auch zahlreiche poli¬
tische Häftlinge sich mit Heil-, Duft- und Gewürzpflan¬
zen beschäftigten.
Aufenthalt innerhalb eines Lagers war lediglich den
Angehörigen der Kommandantur (Schutzhaftoffiziere,
solche der politischen Abteilung, des Arbeitseinsatzes,
des Sanitätsdienstes und während der Zählungen dem
diensthabenden Offizier nebst Gehilfen) gestattet.
In der KZ-Literatur wird sachwidrig jeder Wachpo¬
sten als Verbrecher hingestellt. Dies ist allein schon
deshalb unglaubwürdig, weil während des Krieges die
Masse der Wachmannschaften aus nicht mehr kriegs¬
verwendungsfähigen, älteren Männern bestand.
Bei den Inspektionen, welche ich 1943/44 vorzuneh¬
men hatte, traf ich immer wieder auf schwerkriegsver-
letzte, nicht mehr fronttaugliche Soldaten aus Heer,
Luftwaffe und Waffen-SS, alte Landsturmmänner, die
zu KZ-Wachmannschaften, großenteils gegen ihren Willen
versetzt worden waren. Hochangesehene Frontoffizie¬
re, Schwerversehrte Ärzte beklagten sich bitter über
eine solche Verwendung. Ich halte es für meine Pflicht,
hierauf zu verweisen und zur Rechtfertigung Verfehm-
ter beizutragen.
Graf Schwerin v. Krosigk 40 ', aber selbst amerikani¬
sche Richter 41 ’ verwiesen darauf, daß es bei dem Da¬
chauer Massenprozeß keine spezifischen Anklagen gegen
einzelne Personen gegeben habe, sondern lediglich sum¬
marische Beschuldigungen, die sich auf Aussagen von
meineidigen Berufsbelastungszeugen stützten und die
mittels brutalster Folterungen in "Geständnisse" um¬
funktioniert wurden. Diese Methoden sind zwar später
offenkundig geworden, was jedoch nicht zu einer Reha¬
bilitierung der Beschuldigten und Revidierung der schau¬
erlichen Geschichten geführt hat.
Einer meiner engsten Mitarbeiter in München von
1939 bis 1945, der Arzt und Apotheker Dr. med. B.,
wurde mit Kriegsbeginn als Referent für Heilpflanzen¬
kunde in der Reichsführung SS verpflichtet und hatte
deshalb neben seiner umfangreichen klinischen Tätig¬
keit häufig die Plantage in Dachau zu visitieren und mit
den dort tätigen Wissenschaftlern unter den Häftlingen
zu konferieren. Konkret auf die Beschuldigungen ange¬
sprochen antwortete er mir, daß er von Mißhandlungen
nichts weiß, er hingegen den Eindruck hatte, daß die
Häftlinge froh waren, in den Kulturen arbeiten zu
dürfen.
Besonders engen Kontakt zu vielen Häftlingen der
Plantage hatte Gartenmeister R. Lucaß, Freund aus der
Heidelberger Zeit, mit dem zusammen ich 1934 die un¬
abhängige "Arbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkun¬
de an der Medizinischen Klinik" gegründet hatte. 1939
zum Referenten für Heil- und Gewürzpflanzen in der
RFSS verpflichtet, organisierte er den gesamten Anbau
in den Dachauer Anlagen, wie es die Kriegsbedürfnisse
erforderten. Er weilte noch dort, als die US-Truppen vor
40) L. Schwerin v. Krosigk, "Die großen Schauprozesse", München 1981. S. 394
-395.
41) Vgl. Dr. Pinter in HT Nr. 43, S. 20 ff.
28
HUlorüehr Tatsachen Nr.;
den Lagertoren standen. Nach kurzer Gefangenschaft
wurde er wieder freigelassen, da sich viele Häftlinge für
ihn eingesetzt haben. Er, überzeugter Christ und Predi¬
ger in einer freien Kirche, hätte, wenn er von grausa¬
mem Geschehen gewußt hätte, sofort Alarm geschlagen
und mir davon Mitteilung gemacht.
Die wichtigste Zeugin dürfte jedoch eine der 57 Zivil-
Angestellten, die Apothekerin Traute Friedrich sein, die
in den Dachauer Plantagen seit 1938 ihren Arbeitsplatz,
jedoch nichts mit Partei oder SS zu tun hatte. Sie war es,
die die Gladiolenforschung in Gang gesetzt und betrie¬
ben hat. Ihr ständiger Aufenthalt in der Plantage brach¬
te sie in Kontakt mit vielen Häftlingen. Nach Kriegsen¬
de heiratete sie einen von ihnen, den ehemaligen Capo
Dr. Hilbert, später Generaldirektor der Wiener Staats¬
theater. Die ebenfalls in Dachau inhaftiert gewesenen
österreichischen Politiker Gorbach, Figl und Raab er¬
nannten sogar Frau Hilbert-Friedrich wegen ihrer
Verdienste um die Häftlinge zur Regierungsrätin im
Landwirtschaftsministerium. Dort erwarb sie sich in
der Folgezeit internationale Anerkennng. Einige ihrer
späteren Publikationen erinnern an die Dachauer Zeit.
431 Auch in offenen Gesprächen mit mir während des
Krieges und danach hat sie nie von Exzessen der Wach¬
mannschaften berichtet.
Diese drei glaubwürdigen und sachlich denkenden
Menschen, die weder zu den Häftlingen, noch zur SS-
Lagerhierarchie gehörten, aber von 1938 - 1945 einen
sehr genauen Einblick in die Verhältnisse der Plantage
von Dachau hatten, wußten nichts von dortigen Mi߬
handlungen oder gar Morden. Wir dürfen daher sicher
sein, daß die Angaben von W. Wuttke-Groneberg und
anderer Zeugen nicht der Wahrheit und Wirklichkeit
entsprechen.
Wurde bei Ernährungsversuchen im KZ Mauthausen der Tod
von Häftlingen billigend in Kauf genommen?
Das amerikanische Militärtribunal III sprach im
Prozeß gegen das SS-Wirtschafts- und Verwaltungs¬
hauptamt am 3.11.1947 dessen Leiter, SS-Obergrup-
penführer Oswald Pohl, nur in einem Punkte frei:
Das Gericht erkennt, daß die Emährungsversuche, an denen
Pohl stark interessiert war, die Verwendung von Gift nicht
einschlossen, sondern lediglich erlaubte Versuche über den
Nährwert von Nahrungsmitteln darstellten. Als solche trugen sie
selbstverständlich keinen verbrecherischen Charakter. "42)
Aber im Prozeß waren jene Emährungsversuche, die
von Beginn des Jahres 1943 bis zum Sommer 1944 an
Hunderten von Häftlingen im KZ Mauthausen vorge¬
nommen worden waren, nicht Verhandlungsgegenstand.
Der Mauthausen-Häftling und kommunistische Funk¬
tionär Hans Marsalek hat jedoch diese Emährungsver¬
suche im Auftrag des Mauthausen-Komitees des Bun¬
desverbandes der österreichischen KZ-ler zum Anlaß
genommen, um zu berichten:
"Vom 1. Dezember 1943 bis zum 31. Juli 1944 wurden unter
der Kontrolle namhafter deutscher Ärzte sogenannte Emäh¬
rungsversuche mit Häftlingen durchgeßhrt. Die hierfür be¬
stimmten Häftlinge wurden in 3 »Ernährungsgruppen« einge¬
teilt und auf Block 16 isoliert, mußten jedoch während der
ganzen Dauer der Versuche Schwerstarbeit im Steinbruch ver¬
richten.
Die erte, die sogenannte »Ostkost gruppe «, umfaßte 150
Häftlinge, die 2. und 3. »Hefekost- und Normalkostgruppe« -je
110 Häftlinge (Belgier, Deutsche, Franzosen, Italiener, Jugo-
42) Protokolle des Prozesses gegen den Leiter des SS-Wimchafts-Verwaltungs-
Hauptamtes (Pohl-Prozeß) vor dem US-Militärgerichtshof III in Nürnberg
vom 8.4. - 22.9.1947, Urteilsverkündung 3.11.1947; Protokolle in 23 Bänden
= 8..096 Seiten, davon 30 Bände Dokumente und Unterlagen, kein Aktenzei¬
chen, nicht veröffentlicht. Verhandlungsprotokoll Bd. 23, S. 7.983.
Slawen, Polen, Russen, Spanier und Tschechen), die herangezo¬
gen wurden.
Die Ernährung der »Ostkostgruppe« bestand 8 Monate lang
nur aus einer breiartigen Masse aus Schrot und Stroh. Während
der Versuchsdauer wurden jedem einzelnen Häftling insgesamt
417 x Blut abgezapft. Von den 150 Häftlingen dieser Gruppe
waren am 31. Juli 1944 nur mehr 76 am Leben.
Die Ration der »Hefekostgruppe« bestand aus 25dkg Brot, 2
dkg Wurst und 1 Liter Steckrübeneintopf mit einem Zusatz von
Hefe pro Tag und einmal wöchentlich 6 dkg Margarine und 1
Löffel Marmelade. Jedem Angehörigen dieser Gruppe wurde
insgesamt 283 x Blut abgenommen. Von den 110 Häftlingen
dieser Gruppe waren am 31.7.1944 noch 73 am Leben.
Die Ration der »Normalkostgruppe« war wie die der »Hefe¬
kostgruppe«, jedoch ohne Hefezusatz. Jedem einzelnen Häftling
dieser Gruppe wurde insgesamt 640 x Blut abgezapft, d.h.
durchschnittlich 3 x täglich. Von den 110 Häftlingen dieser
Gruppe blieben schließlich nur 46 am Leben. " 44>
Die "genauen Angaben" vermittelten den Eindruck
der Glaubwürdigkeit. Wissenschaftler haben niemals
die erforderliche kritische Sonde angesetzt, sondern die
Angaben wurden in der Sparte 'NS-Medizin ohne Mensch¬
lichkeit" von Publikation zu Publikation weiterkolpor¬
tiert.
Da ich als wissenschaftlicher Leiter der Versuche für
diese verantwortlich war und natürlich auch bleibe,
43) T. Hilbert-Friedrich, "Beobachtungen über die Gladiole als Vitamin-C-Träge-
rin und ihre praktische Verwendung. In: Die Nahrung 1/57 - 73 (1957). +
Vitamine und Tierernährung” in: ”90 Jahre landwirtschaftliche Bundesver¬
suchsanstalt", Wien 1957.
44) Hans Marsalek, "Mauthausen mahnt - Kampf hinter Stacheldraht
(Tatsachen, Dokumente und Berichte über das größte Hitlerische Vernich¬
tungslager in Österreich)", Wien 1946, S. 64.
29
wurde ich besonders vorgeführt. Ich äußerte mich ein¬
mal kurz 45 ' und tue dies jetzt abschließend.
Wahrscheinlich nahm kein Forscher zwischen 1936
und 1955 mehr kurzfristige, lang- und längstdauernde
Selbstversuche mit Hunger, Durst, einseitiger Ernäh¬
rung, zusätzlichen Extrembelastungen, Medikamenten
planmäßig, wenn auch z.T. unfreiwillig mit den von der
naturwissenschaftlichen Medizin geforderten Testen vor
als ich. Dank dieser gewann ich eine besondere Einstel¬
lung zu Versuchen am Menschen. In dem Arbeitsplan,
den ich bei der Ernennung zum Ernährungsinspekteur
(E.I.) im April 1940 Himmler und Pohl vorzulegen hatte,
heißt es:
Es gehört dazu ... das Studium des Hunger- und Durstzu¬
standes als eines der schroffsten Emdhrungsveränderungen, die
im Kriege zu erwarten waren, und zwar nicht an anderen
Subjekten, sondern in Selbstversuchen, um gerade die Bedeu¬
tung seelischer Momente unddie Veränderungen der Leistungs¬
fähigkeit richtig beurteilen zu lernen."
Noch am 5.1.1945 sagte ich im Referat "Hunger,
Unterernährung, Wiederauffütterung" vor Ärzten und
Intendanten aller Wehrmachtteile:
"Jedoch möchte ich hierzu sagen, daß man solche anstren¬
genden Versuche nur an sich selbst vornehmen kann."
Die gleiche Auffassung kommt auch im Brief zum
Ausdruck, den ich zu entwerfen hatte, und den Oswald
Pohl an Professor Dr. Karl Brandt, den Reichskommis¬
sar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen der Wehr¬
macht und langjährigen Begleitarzt Hitlers in Erwide¬
rung auf dessen Anfrage richtete:
"Von SS-Gruppenfuhrer Wolff wurde mir im Auftrag des
Rh SS Ihr Brief vom 12.1.43 zugeleitet, in welchem Sie die
Durchführung von Ernährungsversuchen in Konzentrationsla¬
gern anregen, die den tatsächlichen Bedingungen an der Front
entsprechen. Infolge Behinderung durch Bombeneinwirkung
komme ich erst heute zur Beantwortung dieses Briefes.
Ich habe seit Beginn des Krieges den Ernährungsinspekteur
der Waffen-SS - Stabsarzt Prof. Dr. Dr. Schenck - in den
Feldzügen im Westen, Südosten, Norwegen und Rußland gleich¬
sam als Sonde in der vordersten Front eingesetzt, um von
vornherein Eifahrungen zu sammeln, die den tatsächlichen
Verhältnissen in der Truppe entsprechen. Einen Niederschlag
der Erfahrungen finden Sie in den 5 Broschüren, die ich Ihnen
beilege. Da unsere Fronttruppen verpflegungsmäßig dem Heer
unterstehen, habe ich seit Sommer 1942 eine Zusammenarbeit
mit dem Verpflegungsamt im OKWeingeleitet, um unsere Erfah¬
rungen über die wirkliche Truppenemährung auch dieser Stelle
unmittelbar zugänglich zu machen.
Im Verfolg dieser Zusammenarbeit habe ich meinen Emäh-
rungsinspekteurals Verbindungsmann zum OKW-Verpflegungs-
amt eingesetzt, so daß ein enger Austausch unserer Erfahrungen
und Pläne gewährleistet ist.
Was nun die Vorwegnahme von Emährungsversuchen in KL
betrifft, so stehe ich auf folgendem Standpunkt, den ich auch dem
RFSS gegenüber vertreten habe: Uber die physiologischen Er¬
fordernisse der Ernährung des Soldaten wissen wir genau Be¬
scheid, einmal auf Grund unserer praktischen Erfahrungen,
dann auf Grund der wissenschaftlichen Untersuchungen über
Ernährung unte r extremen Lebensverhaltnissen, die sowohl von
45) Deutsches Ärzteblatt. Heft 45, S. 3074/45,1986
meinem E.I. bereits vor dem Kriege als auch z.Zt. von der mili-
türärztlichen Akademie durchgeführt werden. Demgegenüber
werden wir von Untersuchungen an Häftlingen nichts zusätzlich
Neues zu erwarten haben, ja in bezug auf die Truppenernährung
vielleicht sogar den wirklichen Verhältnissen entfremdet wer¬
den, einmal, weil die Häftlinge in ihrem Emährungs- und Trai¬
ningszustand nicht mit der Truppe in Vergleich gesetzt werden
können, selbst wenn diese unterernährt ist, und 2. weil die
ganzen positiven moralischen Kräfte fehlen, deren Bedeutung
sich bei der Truppe so erheblich auswirken.
Ich möchte also sagen, daß wir in der Lage sind, genau und
in jeder Hinsicht festzulegen, was die Truppe benötigt.
gez...." 461
Damit war die Gefahr eines Befehls von höchster
Stelle gebannt.
Vom Hauptthema kurz abweichend möchte ich er¬
wähnen, daß ich von Versuchen an Menschen im KL nur
zufällig erfahren hatte: In einem Fall machte mich die
Leiterin der Heilpflanzenkulturen in Dachau darauf
aufmerksam, daß viele Häftlinge bäten, in den Kulturen
beschäftigt zu werden, um so der Zuteilung zu den
gefürchteten Malariaversuchen des Prof. Cl.aus Schil¬
ling zu entgehen. Näheres erfuhr ich nicht und konnte
nur den Antrag auf Zuteilung von Arbeitskräften unter¬
stützen. Dann las ich in der angesehenen medizinischen
Zeitschrift Münchner medizinische Wochenschrift
- wahrscheinlich 1943 - die Arbeit eines Dr. S. Rascher,
der Polygal als wirksames Blutstillungsmittel vorstellte
und dies dadurch gesichert hatte, daß er Gefangene vor
oder nach der Einnahme des Präparates angeschossen
und die auftretenden Blutungen studiert habe. Der
Fachredaktion war das Kriminelle dabei offenbar ent¬
gangen. Ich mußte aber folgern, daß die Experimente in
einem KL vorgenommen worden waren.
Pohl teilte meine Empörung, meinte aber, Rascher
sei persona, fast gratissima beim RFSS, man könne ihm
nichts anhaben. Jedoch könnte man den Krause-Sprüh¬
turm, in welchem das Präparat hergestellt wurde, für
kriegswichtige Zwecke beschlagnahmen. Dies geschah.
Damit verging die Aussicht auf Gewinn an dem neuen
Medikament und damit auch das weitere wissenschaft¬
liche Interesse. 47 '
Schließlich berichteten mir bei einer Inspektion im
KL Natzweiler (Elsaß) der Lagerkommandant von dem
sehr schlechten Zustand der Häftlinge, mit denen Sulfo¬
namidversuche vorgenommen würden. Ich ordnete die
Höchstmenge von Ernährungszulagen an und geriet
damit in die Schußlinie zweier Wissenschaftler, die sich
bei Himmler über den Eingriff in ihre Versuchsplanung
beschwerten, besonders wohl auch deshalb, weil gegen
die Geheimhaltung verstoßen worden war.
Nun aber zu den Ernährungsversuchen:
Eigentlich achtete Himmler die Ostvölker höher als
die seiner Meinung nach schon dekadenten Westvölker,
weil sie sozusagen "naturbelassener" waren. So hatte er
46) Pohl-Prozeß-Dok-Buch VIII, Dok.Nr. 1422, S. 20. Brief vom 20.3.1943
47) Dr. Siegfried Rascher ist noch vor Kriegsende auf Befehl Himmlers erschos¬
sen worden; - vgl. HT Nr. 46. - Im Sprühturmverfahren wurden u.a. auch die
Gladiolenvitamine aus dem gepreßten Saft in trockene Pulverbestandteile bei
30 - 40 Grad Wärme destilliert.
30
vor, seinen SS-Orden später nach dem Kriege entspre¬
chend auszurichten und ihm Tabak, Alkohol und nach
Möglichkeit Fleisch zu entziehen. Pohl und ich mußten
einmal einen solchen Redeschwall in seinem Feldquar¬
tier Hochwald nahe Hitlers "Wolfsschanze" über uns
ergehen lassen. Irgendeiner hatte ihm eingegeben,
Angehörige der Ostvölker vertrügen vegetarische Kost
besser als andere, weil sie einen längeren Dickdarm mit
besserer Verdauungskraft besäßen. Er wollte unter¬
sucht haben, ob Slawen wirklich die besseren Vegetarier
seien und befahl, aus Häftlingen entsprechende Grup¬
pen zu bilden. Westler sollten die normale Lagerverpfle¬
gung bekommen, Ostlern der zustehende Freibank¬
fleischbrocken (sowieso im Brei verkocht) ersatzlos ge¬
strichen werden. Planung und Organisation habe der
Ernährungsinspekteur (also ich) zu übernehmen.
Im Jahre 1942 war ich mit vordringlicheren Ernäh¬
rungsproblemen überreichlich versorgt und vermochte
mich dem unsinnigen Projekt zu entziehen. Dann aber
wurde Himmler drohend, nachdem ich einen Konflikt
um die Konzentratverpflegung (Notverpflegung) der
Waffen-SS mit Glück überstanden hatte, jedoch mit
einer Beförderungssperre "bestraft" worden war, weil er
von meiner Ehelosigkeit und Kirchenzugehörigkeit er¬
fahren hatte.
Der Lagerarzt des KL Mauthausen, Dr. Krebsbach,
war von Anfang an bemüht, den Ernährungszustand
der Lagerinsassen aufzubessern. Himmler war dies
sicherlich zu Ohren gekommen, so daß er dieses Lager
für Forschungen auswählte und mir dort Zugang ver¬
schaffte.
Vor einem Gremium von etwa 40 sach- und fachkun¬
digen Häftlingsärzten, -Sanitätern und -naturwissen-
schaftlem stellte ich den Versuchsplan vor und disku¬
tierte, ob nach den vorgestellten Kriterien verfahren
werden könne.
Zu meiner Überraschung kam man von der anderen
Seite mit zusätzlichen Vorschlägen, die zu realisieren
wären, sofern die erforderlichen Apparaturen zur Ver¬
fügung gestellt würden, darunter solche, die wir im
Kriege nur noch vom Hörensagen kannten. Da entfuhr
mir: "Ach Kinder, Ihr wißt ja gar nicht, wie es draußen
aussieht!", was mir später eine dienstliche Rüge ein¬
brachte.
Sonderbaracken und eine von den anderen abge¬
trennte Küche wurden für die vorgesehenen 450 Ver¬
suchspersonen und die 40 bis 50 Häftlinge bereitgestellt.
Unter Aufsicht des Lagerarztes nahmen letztere die
Versuche in ihre Regie, suchten die Beteiligten aus und
teilten sie in eine der 3 Gruppen (Normal-, Normal + 15
g Nährhefe, Ostkost) ein.
Übrigens ist der im Text stets gebrauchte Begriff
Versuche" in diesem Fall inkorrekt. Ich wollte ja keine
neuen Erkenntnisse auf Grund eines Versuchs gewin¬
nen, sondern es stand für mich bei Ausarbeitung der Er¬
nährungspläne fest, daß die darin festgelegten Rationen
eine Besserung des Ernährungs- und Gesundheitszu¬
standes bewirken mußten.
Der tschechische Häftling S.M. Ondraskczek führte
mit Fleiß, großer Akribie, aber ohne jeden Sachverstand
das Protokoll, in dem sicherlich alle Zahlenwerte zutref¬
fen, aber die Schlußfolgerungen seltsam sind. Es wurde
offenbar niemals von einem Häftlings- oder gar dem
Lagerarzt kontrolliert oder mit Fachbemerkungen ab¬
geschlossen. Ich gab das Buch Vorjahren dem Bundes¬
archiv Koblenz, um es jedem Interessenten zugänglich
zu machen. In diesem Protokoll befinden sich die au¬
thentischen Angaben über Art und Häufigkeit der je¬
weils vorgenommenen Tests. Ich zitiere:
"Wegen Mangels an erforderlichem Geräte-Inventar im ört¬
lichen Laboratorium konnten leider nicht alle vorgeschlagenen
Untersuchungen vorgenommen werden wie: Bestimmung der
Chloride, des Zuckers, der Harnsäure, des Eiweißes, der P H
(Säurewert des Blutes), des Reststickstoffs, der Viscosität und
Gerinnungszeit des Blutes, wie auch des Grundumsatzes und des
Elektrocardiogramms. Jedoch wurde alle 14 Tage Körperge¬
wicht, einmal monatlich Blutdruck und die Kreislauffunktion
nach Sc he llong (Internist, Erfinder dieser Methode) geprüft.
Blutentnahmen fanden je Probanden 1 x monatlich statt."
Nichts also von jenen ungeheuren Blutentnahme¬
zahlen laut Marsalek.
Einem auch nur einigermaßen kritikfähigen Fach¬
mann hätte freilich schon früher auffallen müssen, daß
während der Jahre 1944/45 nicht einmal die Majo-
Klinik in den USA die ungeheure Analysenzahl hätte
bewältigen können, die angeblich das simple Laborzim¬
mer eines KL erledigte.
Die Normalkost entsprach einer optimal zubereite¬
ten und gerecht ausgegebenen Lagerverpflegung. Die
Zulage von 15 Gramm Nährhefe stellte eine Verbesse¬
rung dar. In bezug auf die "Ostkost", bei der laut Himm¬
ler tierisches Eiweiß ersatzlos zu streichen war, ging ich
meinen eigenen Weg auf eigenes Risiko:
Nahrungs- Normal- Normal- Ostkost- erhalten
Stoffe
_igLZ&_
verpflg.
verpflg.
+ Hefe
Befehl
Himmler
Berechng
Schenck
Eiweiß
50,6
66
46
85,7
Fett
25
25
25
39
Kohlenhydrate 449
449
449
655
Kalorien
2.368
2.420
2.350
3.422
-——■ oivii cureu, jeuuui mucm-e
ich sie auch in Beziehung zu den Rationen setzen, die der
deutsche Normalverbraucher zwischen Kriegsbeginn
und Nachkrieg zugeteilt erhielt.
1939/40 2.435
74,0
57,7
389
1940/4 1 2.445
70.0
57,0
397
1941/42 1.928
49,0
47,0
315
1942/43 2.078
54,3
42,4
356
1943/44 1.981
52,4
40,2
333
1944/45 1.671
46,9
31,9
278
1945/46 1.412
43,2
21,8
252
1946/47 1.426
44,3
14,3
272
1947/48 1.503
43,0
15,1
288< 8 >
Infolge der "Umberechnung" wurden während der 10
Versuchsmonate etwa 20 Tonnen hochwertiger Verpfle-
gungsmittel nicht aus dem Bestände des zivilen Ernäh¬
rungsamtes sondern aus dem Truppenwirtschaftslager
der Waffen-SS zusätzlich in das Vesuchsobjekt ver¬
bracht. Mein Glück, daß niemand nachrechnete.
Das Ergebnis der Versuche entsprach den Erwartun¬
gen. Alle Beteiligten hatten an Gewicht zugenommen,
die Vollvegetarierer am meisten. Der Gesundheitszu¬
stand der Gesunden, die schwer zu arbeiten hatten, war
erheblich gebessert, Eiterungen verschwunden. Ich war
bei der Abschlußuntersuchung zugegen. Damit wäre
der Himmler-Auftrag erfüllt, das Himmler-Forschungs¬
projekt erledigt gewesen.
Aber die klugen Häftlingswissenschaftler, denen ich
als gleicherweise erfahrener Gulag-Häftling meinen
Respekt bezeuge, wollten nach Ablauf der Versuche kei¬
neswegs ihre Posten aufgeben und in das Großlager zu¬
rückkehren. Sie befanden sich sogar in einer gewissen
Interessengemeinschaft mit der Lagerführung, die ih¬
rerseits vom Privatforschungsprojekt des RFSS anse¬
hensmäßig profitiert hatte. Man organisierte, jetzt je¬
doch mit kranken und arbeitsunfähigen Häftlingen,
eine weitere Versuchsperiode, die im Dezember 1943
begann und im Juli 1944 endete. Ich erinnere mich
nicht, ob man hierfür die Zustimmung aus Berlin einge¬
holt hat. Ich hätte zugestimmt. Das Protokoll hierüber
erhielt ich Ende Dezember 1944 und verwendete es noch
für das bereits erwähnte Referat "Hunger, Unterernäh¬
rung, Wiederauffütterung" vor maßgeblichen Militärs
am 5.1.1945.
Dieser "Versuch" stand unter dem unglücklichen
Stern des Kriegsendes. Im KL Mauthausen brachen
schwerste, dezimierende Epidemien aus, denen zahlrei¬
che Versuchspersonen noch in der Vorperiode zum Opfer
fielen. Die Verpflegung der Verstorbenen wurde weiter
angeliefert, was die Rationen verbesserte.
Der Leiter der "Zentralstelle im Lande Nordrhein-
Westfalen für die Bearbeitung der nationalsozialisti¬
schen Massenverbrechen in Konzentrationslagern"
eröffnete 1963 auftragsgemäß gegen mich ein Ermitt¬
lungsverfahren wegen des Verdachts, auf Grund der Er¬
nährungsversuche am Tod einer hohen Anzahl von
Häftlingen schuldig zu sein. Nach umfangreichen inter¬
nationalen Erhebungen und ausgedehnten Verneh¬
mungen wurde das Verfahren 1968 eingestellt, und ich
seitens meiner Disziplinarbehörde wieder in den vorhe¬
rigen Stand eingesetzt. In der staatsanwaltschaftlichen
Verfügung heißt es begründend, die Versuchspersonen
seien im Verhältnis zu den übrigen Häftlingen besser
gestellt ge wesen und hätten alles unternommen, um den
Abschluß der Versuche hinauszuzögem. Der französische
Zeuge Dr. Chanell, als Student während der 2. Ver¬
suchsreihe zum Sanitätspersonal gehörig, bekundete
vor einem französischen Richter an Eidesstatt:
"Solange man sie wog und ihnen etwas Blut abnahm, waren
die, die wohlauf waren, sicher, im Block I zu bleiben, ohne
arbeiten zu müssen. Und die anderen (die Kranken, - d. Verf.)
waren sicher, nicht in den Wagen steigen zu müssen, der die
Untauglichen zur Arbeit fuhr und die kleinen Krüppel nach
Hartheim, wo sie getötet worden wären. Kurz, die Versuchska¬
ninchen ... wären nur zu gerne
ewig dort geblieben, egal wel¬
che Diät ihnen auferlegt wor¬
den wäre, bemüht, sich jeden
Tag so gut wie möglich zu er¬
nähren, ohne sich auch nur eine
Sekunde einen Gedanken zu
machen Uber die Folgen der
Diätverletzungen auf die Be¬
rechnungen und Diagramme von
Ondraskczek. Man kann sogar
sagen, daß keiner von ihnen re¬
gelmäßig eine Versuchsdiät
befolgte, ganz gleich, welche es
war."
Meiner Erinnerung nach
hörte ich damals als Ge¬
rücht, daß in Mauthausen
alles drunter und drüber
gegangen sei.
Auf die Frage nach etwa
versuchsbedingten Schädi¬
gungen sagte der Zeuge:
"Ich glaube ehrlich, daß
diese Versuche niemandem ge¬
schadet haben. Sie waren im
Gegenteil sowohl für die ver¬
antwortlichen Deutschen als
auch für die Häftlingslaboran-
ten und Versuchskaninchen eine
Gelegenheit, sich zu drücken."
Auf die Todesfälle (sol¬
che gab es nur in der 2. Ver¬
suchsreihe) angesprochen:
"Die Haßlinge.... die schon
gesundheitlich geschädigt wa¬
ren, waren im Krankenlager,
wo die Sterblichkeit durch Ruhr,
Typhus etc. täglich zunahm und
zum Schluß ein enormes Aus¬
maß angenommen hat. Meiner
Meinung nach muß man den
Tod dieser Häftlinge ausschlie߬
lich auf diese Krankheiten zu¬
rückführen, da die Versuche,
denen sie unterzogen wurden,
an sich nicht gefährlich waren."
Kölnische Illustrierte
Zeitung, 9. Jan. 1936
Die staatsanwaltlichen Ermittler stellten abschlie¬
ßend fest, daß die Ernährungsversuche im KL Mau¬
thausen nicht gegen die Menschlichkeit verstoßen, nicht
die Menschenwürde verletzt hätten und mit dem Be¬
rufsethos des Arztes vereinbar waren.
49) Dr. Raymond Chanell-Nievre, aus politischen Gründen am 17.9.1943 in
Mauthausen eingeliefert (Nr. 33.126). Aussage auf Veranlassung der franzö¬
sischen Vereine ehemaliger Mauthausen-Häftlinge. Sie wurde vom Gesund¬
heitsdienst der belgischen Truppen in Deutschland am 11.3.1968 an den
Staatsanwalt beim Bayerischen Verwaltungsgeridit in München zu den
Akten meines Ermittlungsverfahrens gegeben. Siehe EinstellungsverfUgung
in Köln vom 16.8.1968 (AZ 24 -1 40/65 IZ]).
32
Alexis Carrel (1873 - 1944)
Nobelpreisträger -- und Schreibtischtäter?
Im Jahre 1935/36 erschien fast gleichzeitig in großen
Verlagshäusern Amerikas, Frankreichs, Deutschlands
und wahrscheinlich auch einiger anderer Länder das
Buch:
"Man - the unknown; L'homme inconnu" - "Der
Mensch - das unbekannte Wesen" des Nobelpreisträ¬
gers Alexis Carrel.
Er begann es, schreibt er einleitend, weil einer es
beginnen mußte. Weil die Menschen die moderne Zivili¬
sation nicht auf den gegenwärtigen Geleisen weitertrei¬
ben dürfen- - weil sie entarten.
"Verkommt der Mensch, dann vergeht die Schönheit der
Kunst, dann schwindet das Erhabene aus der natürlichen Welt."
Carrel hatte Menschen so gut wie in jeder Form ihrer
Lebensäußerungen beobachtet, hatte sich mit Freunden
aus verschiedensten Berufswelten auseinandergesetzt.
Viele hatten ihn zum Schreiben dieses Buches gedrängt,
das er nicht im ländlichen Frieden, sondern in dem
Wirrwarr, dem Lärm, der Nervenmühle von New York
verfaßte und jedem zueignete, dessen Arbeit der Bil¬
dung und der Betreuung der menschlichen Persönlich¬
keit galt - mit einem Worte: jedem Mann und jeder
Frau.
In Erkenntnis der Gebrechlichkeit der von uns ge¬
schaffenen Kultur rechnet er mit dem Verständnis aller,
die nicht nur die Notwendigkeit geistiger, politischer
und sozialer Veränderungen einsähen, sondern auch
begriffen, daß die industrielle Zivilisation über Bord
geworfen und eine neue Form des menschlichen Fort¬
schrittes heraufgeführt werden müsse.
Er ist überzeugt, daß fast alle Völker dem von Nord¬
amerika zu weisenden Weg folgen würden; denn die
Länder, die blindlings Geist und Technik der industriel¬
len Zivilisation übernommen hätten, Rußland ebenso
wie Frankreich, England, Deutschland seien den glei¬
chen Gefahren ausgesetzt wie die Vereinigten Staaten.
Carrel ruft auf zum Kampf um die Rettung des
Menschengeschlechtes. Es geht ihm um die Schaffung
eines neuen Menschen.
Das Buch fand viele Leser; es war in aller Munde.
Aber der Zweite Weltkrieg begann, und Furchtbares
ging über die Völker hinweg, denen Carrel es als Weg¬
weiser zugedacht hatte. Sein Inhalt verwehte; der Titel
wurde zum geflügelten Wort.
Als ich jüngst meinen "Carrel" wiederfand, bemerkte
ich es an Anmerkungen und Anstreichungen: Ich mußte
ihn vor mehr als ei nem halben Jahrhundert gut studiert
haben, aber die Seiten, die mich beim jetzigen Lesen
bestürzten und zum Schreiben dieses Aufsatzes aufstör¬
ten, waren unbeachtet und von Anmerkungen verschont
geblieben - als außerhalb jeder damaligen ärztlichen
Vorstellung gelegen.
Wer war nun dieser Alexis Carrel? War der An¬
spruch, mit dem er auftrat, berechtigt?
Zweifellos war er einer der großen Forscher in der
umfangreichen Zahl bedeutender Gelehrter, die zwi¬
schen 1860 und 1880 geboren, das Bild vornehmlich von
Medizin und Naturwissenschaft in der ersten Hälfte
unseres Jahrhunderts geprägt haben. Im Jahre 1912 er¬
hielt er den Nobelpreis für sein Verfahren zur Trans¬
plantation von Gefäßen. Vor Frau Rabinowitch-Kemp-
ner in Berlin und A. Fischer in Kopenhagen wurde er
zum Pionier der Gewebezüchtung. Die von ihm mehr als
30 Jahre lang von Kulturgefäß zu Kulturgefäß übertra¬
genen und stetig unverändert weiterwachsenden Zell¬
konglomerate aus seinem Kükenherzen waren weltbe¬
rühmt. Und der ihm gelungene Nachweis, Lebendes un¬
verändert erhalten und weiterzüchten zu können, präg¬
te wohl auch seine spätere, über die frühen Experimen¬
te weit hinausgreifenden Vorstellungen von der Schaf¬
fung eines neuen Menschen.
Von dem Brüderpaar, dem älteren Simon und dem
jüngeren Abraham Flexne 501 , den Talentsuchern der mit
fast unausschöpflichen Mitteln ausgestatteten Rocke-
feller- und Carnegie-Stiftungen, wurde er 1904 in das
Rockefeller-Institute für Medical Research (jetzt Rocke-
feller-Universität) in New York geholt, an dem er dann
fast 30 Jahre lang, freundschaftlich verbunden mit zahl¬
reichen dort ebenfalls arbeitenden hervorragenden
Forschern, tätig war, wobei er zugleich die Möglichkeit
erhielt, Forschungsstätten in aller Welt aufzusuchen.
Nach alledem mußte ihn der Leser seines Buches —
und das war auch bei mir der Fall, ehe ich seinen Lebens¬
daten nachging - für einen Amerikaner halten. Jedoch
er war Franzose und im Jahre 1873 nahe der Stadt Lyon
geboren, wo er auch Medizin studierte, zum Dr. med.
promovierte und zwei Jahre lang als Facharzt für Patho-
50) Der erste war ein bedeutender Bakteriologe, der andere Organisator von
hohen Graden, der die amerikanischen Universitäten und die amerikanische
Wissenschaft nach dem Studium -der europäischen Einrichtungen und nach
Vergleich mit denen des eigenen Landes aus der Mittelmäßigkeit innerhalb
von 20/30 Jahren zur Spitze führte.
logie tätig war. Erst 1904 zog es ihn in die U.S.A. und
zwar zunächst an die Universität von Chicago; doch
schon nach etwa 2 Jahren wechselte er in das Rockefel-
ler-Institut über. Im Ersten Weltkrieg- bereits seit 1912
Nobelpreisträger - ging Alexis Carrel als Chirurg zum
Kriegsdienst in sein Vaterland und entwickelte für die
Verwundeten das Carrel-Dakin-Verfahren der antisep¬
tischen Wundbehandlung.
Nach Kriegsende kehrte er in das Rockefeller-Insti-
tut zurück und war Mitträger des gewaltigen Aufschwungs
der bewußt und mit großem Ehrgeiz ausgebauten ame¬
rikanischen naturwissenschaftlich-medizinischen For¬
schung.
Dieser Ehrgeiz findet seinen Ausdruck in einer
Bemerkung des bereits erwähnten Abraham Flexner
aus dem Jahre 1920, der zugleich voller Anerkennung
für die deutsche Wissenschaft war. Sie lautet:
"Die deutsche Wissenschaft ist zwar in den letzten 50 Jahren
die fiihrende in der Welt gewesen. Das verarmte Deutschland
wird aber nicht in der Lage sein, diese Vormachtstellung zu
behaupten, und daher ist es jetzt an der Zeit, daß Nordamerika
dieses Erbe antritt." 521
An Geldmitteln, die dazu beitragen konnten, mangel¬
te es diesen großen Stiftungen nicht.
Carrel betrieb in diesen nicht ganz zwei Jahrzehnten
seine Gewebszüchtungs-Studien, die ihn berühmt mach¬
ten; zugleich befaßte er sich auf Reisen mit Technik,
Zivilisation, Kultur und den Verhältnissen der Men¬
schen in ihrer Umwelt.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges sehen wir den
Patrioten A. Carrel wiederum in seinem Heimatlande,
offenbar seines Alters wegen nicht mehr im aktiven Mi¬
litärdienst, sondern 1939/1940 im französischen Ge¬
sundheitsministerium. Nach der Niederwerfung Frank¬
reichs durch die deutschen Armeen verblieb er in Paris
und wurde dort zum Direktor der französischen Stiftung
zum Studium der menschlichen Probleme ernannt. Bis
zu seinem Tode am 5.11.1944 im 71. Lebensjahre ver¬
blieb er anscheinend in dieser Stellung. 531
Eugeniker
Dieser Alexis Carrel wollte kein Philosoph sein; mit
seinen über 60 Jahren stand er 1935 auch nicht mehr im
ärztlichen Leben. Er war ein begnadeter Naturforscher,
aber kein Spezialist. Vielfältige Untersuchungen, stän¬
dige Beobachtung der menschlichen Verhältnisse und
von Erdenbewohnern allenthalben hatten ihn zum
Eugeniker werden lassen, d.h. zum Betrachter und
Beurteiler des ungeheuren Konsortiums ungezählter
menschlicher Individuen. Er betrachtete dieses mit
zunehmender Sorge, da er es infolge einer massiv sich
durchsetzenden technologischen Zivilisation nicht nur
in seiner inneren Ordnung für gefährdet hielt, sondern
bereits im Zustande der Entartung sah. Das naturgege¬
bene Gleichgewicht zwischen Psyche und Soma erschien
bereits ihm weitgehend gefährdet.
Sein Interesse galt jedoch vornehmlich den "weißen
Rassen", in denen er die Verursacherinnen des sich
verhängnisvoll anbahnenden Übels erkannt hatte. Dabei
sah er "Rasse" nicht biologisch, sondern faßte unter
diesem BegrifF alle Völker zusammen, die sich im Aus¬
bau der "technologischen Zivilisation" hervortaten.
Eine antisemitische Äußerung, um dies klar zu stel¬
len, findet sich in seinem Buche nirgends; Juden arbei¬
teten ja Seite an Seite mit ihm im Rockefeller-Institut.
Wenn er einmal Siegfried Freud kritisierte, so aus
einem anderen Grunde. 511 Da die Gefahr für die Mensch¬
heit, meint Carrel, von den U.S.A. als dem Lande höch¬
ster technologischer Zivilisation ausgegangen sei, hät¬
ten die Vereinigten Staaten bei der Wiederherstellung
51) wie sich aus folgendem Zitat ergibt:
"Ein Primat der Psychologie wäre aber nicht weniger geßhrlich als ein Primat
der Physiologie. Freud hat mehr Schaden angerichtet als die extremst mecha¬
nistisch eingestellten Forscher. Es wäre durchaus von Obel .... wenn der
Mensch einzig und allein aufseine geistigen Ausdrucksformen zuhlckgeßhrt
wurde", S. 282.
der Ordnung im "Konsortium humanum" auch die Füh¬
rerrolle zu übernehmen, also sozusagen "Menschheits¬
therapie" zu betreiben. Die Eugeniker, die dazu bereit
wären, stünden vor 3 großen Aufgabenbereichen: Sie
müßten
1. ) den Gang der Entartung der Menschheit beobach¬
tend verfolgen,
2. ) die Mittel und Methoden zur erneuten Aufbesse¬
rung des Menschengeschlechtes erarbeiten und
3. ) die Ausmerze des unwiderruflich Entarteten und
Verdorbenen anregen oder durchführen.
Hierzu führt er im einzelnen aus:
(1.) Beobachtung:
Da die Entartung der Menschheit ein langsam ablau¬
fender Vorgang sei, der innerhalb einer Generation
kaum erfaßt werden könne, müsse eine Organisation
eingerichtet werden, die die Prozesse über Geschlech¬
terfolgen hinweg kontinuierlich verfolge, aber nicht
regulierend eingreifen dürfe. Dies solle mittels eines
Institutes geschehen, das den geistigen Brennpunkt der
Entwicklung der modernen Gesellschaft darstelle und
deren Verhalten über mindestens ein Jahrhundert hin
fortlaufend verfolge. Gleich dem obersten Gerichtshof
der U.S.A. würde dieser "hohe Rat" nur aus wenigen
Menschen bestehen und lediglich ein "Denkzentrum"
darstellen, d.h. kein Mitglied dürfe selbst forschen und
selbst lehren. Eine derartige Institution wäre eine Ret¬
tung für die weißen Rassen auf ihrem taumelnden Weg
52) F. Fillleborn. "Der Wiederaufbau der deutschen Wissenschaft”, Beilage zu
den Mitteilungen des Verbandes der deutschen Ilochschtden 1923, S. 14.
53) Die wenigen hier beigebrachten Daten, die, wie wir sehen werden, manche
Frage offen lassen, entnahmen wir der "Enzyklopaedia Britannica". Andere
Quellen waren noch weniger aufschlußreich, eine Biographie scheint nicht
vorzuliegen. Zu erwähnen bleibt, daß Carrel außer dem hier behandelten Buch
noch veröffentlichte: "The culture of Organs" (1938); "La Priere" (1944) und
nachgelassen: "Reflektions on Life" (1952)
34
HietoHmehe Tote
zu einer neuen Kultur, und die Führer der Völker, ob
nun die demokratisch oder diktatorisch regierenden,
würden von hier Auskünfte empfangen. Die ruhige
Tätigkeit, die Beratung, die Ausstrahlung der stillen
Denkart dieser hohen Vereinigung würden den Bewoh¬
ner der modernen Polis vor den mecha nischen Erfindun¬
gen schützen, die ihm körperlich oder geistig gefährlich
sind, vor den Verfälschungen des Denkens und der
Ernährung, vor den Willkürmaßnahmen der verschie¬
denen Fachgelehrten, kurzum vor jedem Fortschritt,
den nicht ein öffentliches Bedürfnis, sondern die Hab¬
sucht oder der Selbstbetrug der Erfinder heraufbeschwo¬
ren hat. Die Mitglieder dieser Institutionen hätten eine
höhere und geachtetere Stellung einzunehmen als die
Richter am obersten Gerichtshof, wären sie doch die
Verteidiger von Leib und Seele eines großen Volkes bei
seinem tragischen Kampf gegen die blinde materialisti¬
sche Wissenschaft.
(2.) Aufbesserung:
Der berühmte Gewebezüchter mußte schon von die¬
sen seinen Erfahrungen her der sicheren Gewißheit
sein, daß man im Konsortium humanum geeignete Ele¬
mente ausfindig machen könne, deren Weiter- und
Emporzüchtung sich zum Nutzen des Ganzen lohne und
weitere Entartung hintanhalte.
"Wenn wir die Starken noch stärker machen, können wir
auch den Schwachen wirksame Hilfe leisten; denn die Masse hat
immer ihren Nutzen von den Ideen und Erfindungen der Elite.
Statt die organischen und geistigen Ungleichheiten einzuebnen,
sollte man sie vielmehr erweitern und größere Menschen schaf¬
fen".
Bei seinem Plan der Entwicklung einer "nichterbli¬
chen Aristokratie" oder "Elite" geht Carrel von der Vor¬
stellung aus, daß für die geistige und körperliche Höher¬
züchtung geeignete Menschen in allen Gesellschafts¬
klassen aufzufinden seien, daß sie aber in besonderer
Häufigkeit in hervorragenden Familien, wenn auch
häufig unter dem Mantel der Entartung verborgen,
vorkämen wie z.B. als Söhne reicher Männer, von Ari¬
stokraten, aber auch von Verbrechern. (Carrel spricht
immer nur vom männlichen Geschlecht.) Diese müsse
man schon als kleine Kinder von den Eltern trennen, da
man nur dann die Kraft ihrer Erbanlagen durch geeig¬
nete Erziehung zum Ausdruck bringe. Eugenik solcher
Art sei unentbehrlich, wolle man den Bestand an Star¬
ken sichern, sie könne für das Schicksal der weißen
Völker entscheidend sein.
(3.) Ausmerze:
Sollten die Starken sich durchsetzen, so erfordere
dies zur Erleichterung ihres Hochkommens die Ausmer¬
ze der Untauglichen und Gefährlichen. Zu diesen zählt
er nicht das Proletariat, dessen Existenz die ewige
Schande der industriellen Zivilisation bleiben werde. Es
müsse - um es einfacher als er auszudrücken — durch
Hebung des allgemeinen Lebensstandards aus seinem
Elend gerissen werden. Carreis Vorschläge zur Ausmer¬
ze der unnützen Menschen sind härter und tiefgreifen¬
der als sie je sonst gemacht und öffentlich vorgelegt
wurden, auch wenn wahrscheinlich keine Stelle in den
U.S. A. je danach verfahren ist. Es ist unumgänglich, sie
wörtlich zu bringen:
“Es bleibt noch das ungelöste Problem der zahllosen Min¬
derwertigen und verbrecherisch Veranlagten. Sie bedeuten eine
unerhörte Belastung für den normal gebliebenen Teil der Bevöl¬
kerung. Wir haben schon einmal davon gesprochen, daß gegen¬
wärtig ungeheure Summen dafür verwendet werden, Gefängnis¬
se und Irrenanstalten zu unterhalten und die Öffentlichkeit von
unsozialen Elementen und Geisteskranken zu schützen. Wozu
erhalten wir alle diese unnützen und schädlichen Geschöpfe am
Leben? Die Unnormalen hindern die Normalen an ihrer Ent¬
wicklung — diese Tatsache müssen wir uns hier klar vor Augen
halten. Weshalb verfährt die Gesellschaft mit den Verbrechern
und Geisteskranken nicht auf sparsame Weise ? Es kann nicht so
weitergehen, daß wir versuchen, zwischen 'verantwortlich' und
'nicht verantwortlich' einen genauen Unterschied zu machen
und die Schuldigen zu bestrafen, während die Täter eines Ver¬
brechens, die wir für moralisch "nicht verantwortlich" halten,
geschont werden. Natürlich sind wir nicht fähig, Uber Menschen
zu Gerichte zu sitzen; die Gemeinschaft muß indessen vor stören¬
den und gefahrbringenden Elementen geschützt werden. Wie
kann das geschehen ? Bestimmt nicht dadurch, daß man immer
größere und komfortablere Gefängnisse baut, ebenso wie echte
Gesundheit nicht durch größere und noch fachmännischer gelei¬
tete Krankenhäuser gefördert wird. In Deutschland hat die
Regierung energische Maßnahmen gegen die Vermehrung der
Minderwertigen, Geisteskranken und Verbrecherischen ergrif¬
fen. Die ideale Lösung wäre es, wenn jedes derartige Individuum
ausgemerzt würde, sowie es sich als geßhrlich erwiesen hat.
Verbrechertum und Geisteskrankheit lassen sich nur verhüten
durch ein fundiertes Wissen vom Menschen, durch Eugenik,
durch Verbesserung der sozialen und der Erziehungsverhältnis¬
se, und schließlich dadurch, daß man keinerlei sentimentale
Rücksichten mitsprechen läßt. Bis wir soweit sind, muß wenig¬
stens das Verbrechertum wirkungsvoll bekämpft werden. Es
wäre vielleicht angebracht, unsere heutigen Gefängnisse aufzu¬
lösen und an ihrer Stelle kleinere, billigere Anstalten zu errich¬
ten. Bei kleinen Verbrechen könnte man den Übeltätern eine
heilsame Lektion mit der Peitsche oder einem etwas wissen¬
schaftlicher arbeitenden Züchtigungsmittel angedeihen lassen,
was, wenn etwa noch ein kurzer Aufenthalt im Krankenhaus an¬
geschlossen würde, die Dinge vermutlich in beste Ordnung
brächte. Wer aber gemordet, mit Selbstladepistolen und Maschi¬
nengewehren bewaffnet einen Raubiiberfall begangen, wer Kinder
entführt, den Armen ihre Ersparnisse abgeknöpft, die Menschen
in wichtigen Dingen bewußt mißleitet hat, mit dem sollte in
humaner und wirtschaftlicher Weise Schluß gemacht werden: in
kleinen Anstalten für die schmerzlose Tötung, wo es die dazu
geeigneten Gase gibt.
Ebenso müßte man zweckmäßigerweise mit jenen Geistes¬
kranken verfahren, die sich ein Verbrechen haben zuschulden
kommen lassen. Die moderne Gesellschaft muß endlich ent¬
schlossen grundsätzliche Maßnahmen treffen, und zwar mit dem
Endziel, dem normalen Individuum zu seinem Recht zu verhel¬
fen. Vor einer solchen Notwendigkeit haben philosophische
Dogmen und sentimentale Vorurteile zu verstummen. Die mensch¬
liche Persönlichkeit zu ihrer höchsten Ausbildung zu führen, das
ist das letzte Ziel der Zivilisation."
Gewaltmaßnahmen derart, wie Carrel sie schon 1935
verlangte, und deren Aufzählung wie Verwirklichung
heute jeden Hochsensibilisierten aufs tiefste erschrek-
35
ken, erforderten mächtige Männer, die sie durchfuhren
konnten. Deshalb ist nicht verwunderlich, daß Carrel,
wie im Text mehrfach ersichtlich, bei seinen Gedanken¬
spielen eine gewisse Zuneigung zu autoritären Ländern
und ihren Herrschern zeigte, deren Wirkung auf die
Massen er wiederum auf seine Weise zu erklären suchte
(7. Kap. Das Individuum, S. 262):
"Auch normale Individuen können aber zuweilen ganz wie
Hellsichtige die Gedanken anderer Menschen lesen. Ein viel¬
leicht analoger Vorgang ist es. daß manche Menschen die Kraft
haben, eine große Menschenmenge durch ihre, dem Anschein
nach ganz durchschnittlichen und bedeutungslosen Worte zu
überzeugen und mit fortzureißen und Menschen zu Glück und
Kampf, zu Opfer und Tod Zufuhren. Zwischen bestimmten Ein¬
zelpersonen und der Natur herrschen schwer zu erfassende, rät¬
selhafte Beziehungen; solche Personen vermögen sich über
Raum und Zeit auszudehnen und die Wirklichkeit in ihrem
konkreten Sein zu erfassen. Es sieht aus, als entrönnen sie aus
sich selbst und aus dem Zusammenhang der Körperwell."
Abgesehen von den Diktatoren seiner Lebenszeit
dachte der Franzose hierbei wohl auch an Napoleon I.
Andererseits aber habe ich niemals gelesen oder gehört,
daß sich ein deutscher Wissenschaftler zur Rechtferti¬
gung der Tötung Geisteskranker auf Carrel als gewiß
hochwillkommenen ausländischen Kronzeugen berufen
hätte, obgleich sein Buch offen auslag. Ergänzend möch¬
te ich bemerken, daß Einiges von dem, was Carrel für die
Zukunft forderte, in den U.S.A. damals bereits prakti¬
ziert wurde, wie folgende Buchankündigung und -be-
sprechung beweist:
Sterilisierung zum Zwecke der Aufbesserung des
Menschengeschlechts", von E.S. Gosney, B. S. LL. B.,
Präsident der Stiftung für Verbesserung des Menschen¬
geschlechts, Pasadena, Kalifornien, und Paul Popenoe,
D. Sc. Direktor des Instituts für Familienforschung, Los
Angeles, Kalifornien.
Deutsch von Dr. med. Konrad Burchardi, Facharzt
für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Los Angeles,
Kalifornien, Oktav 78 S. 1930. Vorzugspreis 4 RM, Ein¬
zelpreis 5,35 RM (Abhandlungen auf dem Gebiete der
Sexualforschung Bd. V H 5.)
"Die Verfasser behandeln in diesem Buche unter Benutzung
des umfangreichen Tatsachenmaterials, das die in Amerika
schon weit vorgeschrittene eugenische Denkweise geschaffen
hat, in systematischer Darstellung die Sterilisation, d.h. die
dauernde oder zeitweilige Ausschaltung der Fortpflanzungsfä¬
higkeit (ohne Beeinträchtigung des persönlichen Sexuallebens)
zum Zwecke der Aufbesserung des Menschengeschlechtes. Ein
solcher, auf praktische Erfahrung sich stützender authentischer
Bericht findet in Europa das größte Interesse vor, wo der
Gedanke der Ausmerze minderwertigen Erbgutes an Boden
gwinnt.
Verbrecher?
Hätte Martin Luther um 1940 gelebt, so wäre er
wegen der Streitschrift "Wider die räuberischen und
mörderischen Rotten der Bauern " wahrschei nlich heute
aus der Liste der Christen gestrichen und in die der
Schreibtischtäter übernommen worden. Wäre Alexis
Carrel Deutscher gewesen, so würde er sich eines zwei¬
felhaften Ruhmes erfreuen, und man würde noch seine
Schatten jagen.
Aber Martin Luther ist seit 440 Jahren tot und bleibt
der große Reformator. Seine Briefe wurden Zunder.
Aber Alexis Carrel war Franzose, und die Geschichtsjä¬
ger in deutschen Revieren ließen ihn unbehelligt. Je¬
doch darf man eine große Sache nicht so einfach abtun.
Bei Erörterung von Universalien der Menschheit, deren
eine zweifellos Eugenik ist, werden oftmals in abstrak¬
ter Kälte Worte gebraucht, die dem Individuum, das es
möglicherweist betrifft, herzlos, grausam, ja furchtbar
erscheinen müssen; doch sie schweben über dem einzel¬
nen wie die schwarzen Wolken über der Erde und haben
- darf man es sagen— auf ihrer Ebene kein moralisches
Gewicht mehr.
Ich kann Alexis Carrel, der seiner tiefen Sorge um die
Menschheit in reiner Brust so überzeugend zum Aus¬
druck bringt, wegen zweier bestürzender Seiten keiner
verbrecherischeh Gesinnung zeihen.
Vielmehr glaube ich, daß er am Ende seines Lebens in
tragische Verstrickung geriet. Mein Wissen über sein
Wirken von 1941-1944 ist dürftig. Er verbrachte diese
Zeit, wie er erwähnt, in Paris, also unter deutscher
Oberhoheit, in einem Institut zur Erforschung mensch¬
licher Probleme. Wir fragen französische Zeitzeugen
nach Aufgabe und Tätigkeit des Institutes, wir fragen
nach dem Tode Carreis. Er starb im Alter von 71 Jahren,
neun Wochen nach dem Einzug General de Gaulles in
Paris (25.8.1944) — irgendwie von den Befreiungswirren
verschlungen oder unbehelligt? Man darf fast vermu¬
ten, daß Alexis Carrel ein trauriges Ende fand. Weshalb
schrieb er 1944, wenn es zutrifft, das Buch "La priere"
und was verbirgt sich hinter dem Titel?
Der Anreger
Frankreich hätte nach einiger Beruhigung der Gei¬
ster jetzt wohl die Verpflichtung, diesen Mann der Nach¬
welt vorzustellen, so wie er war.
Eine weit höhere Verpflichtung aber fiele sicher den
Rockefeller-Institutionen zu; war dort doch der Platz, an
dem Alexis Carrel seine Vorstellungen und Lehre hatte
konzipieren können, wo er sie mit bedeutendsten Män¬
nern, von denen er nur wenige namentlich anführte,
erörterte, sich von ihnen beraten und ermutigen, ja zur
Niederschrift drängen ließ, die er ebenfalls in der Unru¬
he seiner Arbeitsstelle vornahm.
In welcher Weise wäre einer solchen Verpflichtung
nachzukommen? Die Genfer Konvention vom Roten
Kreuz wurde abgeschlossen zu Hilfe und Schutz von
Menschengruppen jeglicher Art gegen alle erdenklichen
kurz- oder längerdauernden Gefährdungen. Es erübrigt
sich jedes weitere Wort über ihre segensreiche Tätigkeit.
Ein unzählbar Mehrfaches derer, die unter den Augen
Dunants, des Schöpfers des Roten Kreuzes, auf dem
54) Bibliographie - Januar 1931 in R. Finkeiburg: "Die Therapie an den Bonner
Universitätskliniken" Berlin - Köln 1931.)
Schlachtfeld von Solferino verbluteten, kränkt sich heute
um den Weg der Menschheit insgesamt, sieht Abgründe
und fürchtet, wie schon Carrel vor 50 Jahren tat, durch
Industrieen verursachte Selbstvernichtung. Mehr noch,
Menschen, die ein Konsortium humanum erträumen,
sehen sich im Kollektiv entkernt, und ihre Hoffnung auf
Früchte vom Lebensbaum weicht der Angst vor einem
sinnentleerten Nichts.
Der einzelne kann lediglich ein Zeichen setzen und
muß sich angesichts des ungeheuren Leidens- und
Schädigungskomplexes, in dem wir uns mitten drinnen
wie in einem nicht mehr funktionierenden Planetarium
befinden, jeder weiteren Ausführung enthalten. Man
sollte, denke ich, Carreis Vorschlag einer Institution, die
das Verhalten des Menschengeschlechtes und das seiner
sich weiterhin anthropogen umgestaltenden Umwelt
kontinuierlich über Generationen hin beobachtet und
beurteilt, aufgreifen und eine internationale Eubiotik-
Konvention (Konvention Alexis Carrel) schaffen. Dort,
von wo die Anregung ausging, könnte es Heimat und
ersten Sitz finden.
Ein Dokument ergänzender Art
Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung
Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und -Volksbildung und der
ünterrichtsverwaltungen der Länder, Jahrgang 1944 S. 61 - 62:
RdErl. d. RMfWEV. v. 6.3.1944 - E H a (C 19 Geh.Sch.) 2/44 -
Abschrift meines Runderlasses vom 24. Februar 1937 - E VI29 E
IV (b) - (MB1WEV. S. 126) übersende ich zur Kenntnis. Diese
Regelung gilt auch für die Blinden- und Gehörlosenschulen Ihres Auf¬
sichtsbereichs.
An die Herren Rcichsstatthalter in den Alpen- und Donaureichs¬
gauen. den Herrn Reichsstatthalter in Reichenberg, die Herren Reichs¬
statthalter in Danzig und Posen und die Herren Regierungspräsidenten
in Kattowitz und Zichenau.
Organisation des Unterrichts an
Taubstummen- und Blindenanstalten.
Die Zahl der taubstummen und blinden Kinder gehl aus
Gründen teils volksbiologischer, teils gesundheitspfiegerischer
und sanitär vorbeugender Art seit geraumer Zeit stetig zurück.
Ein weiteres Absinken der Zahl der erbkranken Taubstummen
und Blinden ist durch die Maßnahmen des nationalsozialisti¬
schen Staates zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eingelei¬
tet. Mit dieser Entwicklung haben die organisatorischen Ma߬
nahmen auf dem Gebiete des Taubstummen- und Blindenunter¬
richts nicht Schritt gehalten, so daß eine Überprüfung der An¬
staltsverhältnisse, insbesondere der schulischen Einrichtungen,
unter erzieherischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten er¬
forderlich erscheint. Diese Einrichtungen sind den veränderten
Verhältnissen möglichst weitgehend anzugleichen. Dabei ist je¬
doch die Eigenart der Erziehungsarbeit an Taubstummen und
Blinden angemessen zu berücksichtigen.
Im Einvernehmen mit dem Herrn Reichs- und Preußischen
Minister des Innern ordne ich daher an:
1. Der Klassenaufbau der Taubstummen- und Blindenschu¬
len muß jederzeit sowohl pädagogisch sinnvoll als auch finan¬
ziell vertretbar sein. Daher ist die Gliederung der Schüler und
Schülerinnen nach Schulalter und Leistungen von Zeit zu Zeit
sorgfälüg zu überprüfen.
Wo die erzieherische Arbeit durch Mischung allzu starker
Abstufungen von Bildungsgraden, Erziehbarkeitsgraden und
spezifischen Abnormitätserscheinungen sichtlich gehemmt wird
und einer angemessenen Klassengliederung infolge schwacher
Besetzung der Klassen finanzielle Bedenken entgegenstehen,
sind die Schulaufsichtsbehörden gehalten, die Schulunterhal¬
tungsträger zu ausgleichenden organisatorischen Maßnahmen
über den Bereich der einzelnen Anstalt hinaus anzuregen. Es ist
zu prüfen, inwieweit durch Schüleraustausch unter dem Ge¬
sichtswinkel der Bildungsfähigkeit Zusammenlegung selbstän¬
dig nicht lebensfähiger Anstalten und Gründung von Zweck ver¬
bänden Abhilfe geschaffen werden kann. Für die Weiterbeschäf-
ügung etwa freiwerdender Lehrkräfte ist rechtzeitig zu sorgen.
Ferner ist mit Rücksicht auf den Einfluß, den eine geordnete
Berufsschularbeit auf die Eingliederung der Taubstummen und
Blinden in den normalen Arbeitsgang und die Volksgemein¬
schaft zu nehmen vermag, die Einrichtung von Berufsschulen,
soweit sie finanziell tragbar und organisatorisch sinnvoll er¬
scheint, nach Möglichkeit zu fördern.
2. Die Eigenart des Unterrichts an Taubstummen- und Blin¬
denanstalten fordert eine entsprechende Bemessung der Schü¬
lerzahl in den einzelnen Klassen.
An Taubstummenschulen soll in der Aufnahmeklasse die
Zahl 12, in den folgenden Klassen im Durchschnitt die Zahl 15
nicht überschritten werden.
An Blindenschulen soll die Durchschnittsfrequenz sämtli¬
cher Klassen die Ziffer 16 nicht übersteigen....
3. Das regelmäßige Arbeitsmaß wird für Lehrer an Taub¬
stummenanstalten auf 28, für Lehrerinnen ... auf 26, für Lehrer
an Blindenanstalten auf 30, für Lehrerinnen ... auf 28 Unter¬
richtsstunden in der Woche festgesetzt.
Ausgenommen sind die Schwerkriegsbeschädigten Lehrer,
für deren Heranziehung zum Unterricht der Ministerialerlaß
vom 3. Juni 1935 ... sinngemäß Anwendung findet....
Die Zahl der von den Direktoren zu erteilenden Unterrichts¬
stunden ist auf wöchentlich mindestens 15 festzusetzen. ... In
jedem Fall muß der Umfang der unterrichtlichen Täügkeit des
Direktors die Gewähr dafür bieten, daß er der erzieherischen
Aufgabe,..., in besonderer Weise verpflichtet bleibt. ...
Berlin, den 24. Februar 1937.
Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung
und Volksbildung
In Vertretung: Zschintzsch.
An die Herren Oberpräsidenten. -- Abdruck an die Unterrichterver¬
waltungen der Länder. — E VI ^9 EIV (b).
37
Neue Diffamierungswelle läuft an
'•Nationalsozialismus verantwortlich für die heutige Humangenetik
und Reproduktionsmedizin. - Grundsteine hierfür gelegt in Laboratorien,
Kliniken und Konzentrations- und Vernichtungslagern"
Frau Professorin Dr. Heidrun Kaupen-Haas (Institut
für Medizinsoziologie am Universitäts-Krankenhaus
Hamburg-Eppendorf, überraschte schon 1986 +1988 die
internationale Öffentlichkeit mit der "Erkenntnis", daß
" dk nazistische Bevölkerungspolüik mit den beiden Seiten,
»fortpflanzungswürdiges« Leben zu fördern und »fort¬
pflanzungsunwürdiges« Leben zu eliminieren, die inter¬
nationale Gen- und Reproduktions-Forschung beein¬
flußt hat". In "Reproductive and Genetic Engineering"
Vol. 1, No. 2, pp 127 -132,1988 in den USA zeigte sie "dk
institutionellen Klammern zwischen Experimenten in
der Biologie, sog. Therapie-Experimenten, Massenexpe¬
rimenten an gesunden Frauen im Konzentrationslager
Auschwitz und der internationalen Nachkriegsforschung
auf'.
Das liest sich dann so bei der Frau Professorin:
"Frauen, die Zielgruppe für Nazi Geburtshilfe, wurden wie
Tiere den Alternativen unterworfen, entweder zur Aufzucht,
Sterilisierung, Kastrierung oder dem Schlachthaus." (S. 128)
Die Analyse dieser "Forschungsarbeit" erweist, daß
die Fülle der über den Frauenarzt Prof. Dr. med. Karl
Clauberg aus Kattowitz gefälschten Dokumente 55 ' hier¬
bei eine wesentliche Grundlage bilden. Die der Öffent¬
lichkeit längst vorliegende Beweisführung um diese Do¬
kumentenfälschungen wird ebenso mißachtet, wie die
Tatsache, daß Prof. Karl Clauberg sich schon vor 1933
mit beachtlichen Forschungsarbeiten als internationale
Kapazität hervorgetan, nicht hingegen als Verbrecher
ausgewiesen hat, in den ihn die alliierten Kriegspropa¬
gandisten und ihnen folgend die Nachkriegs-Umerzie-
her -- wie jeden hervorragenden Mann der deutschen
Elite - umfunktionierten. 6 ®
Wie Wahres mit Gefälschtem wild durcheinanderge¬
mixt wird mit dem Ziel, die Diffamierung der deutschen
Medizin während des Dritten Reiches stetig auszuwei¬
ten, zeigt auch ein Artikel aus Der Spiegel 20/1992 S. 10
bezüglich Prof. Dr. Heidrun Kaupen-Haas mit folgen¬
den Sentenzen:
"Die Forschung in Auschwitz und in zwei Krankenhäusern in
der Nähe von Auschwitz hatte dabei folgendes Ziel:
1. »Fortpflanzungswürdiges« zu fördern und
2. »Fortpflanzungsunwürdiges« zu eliminieren.
Das heißt: Die 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' und die
Förderung erwünschten Lebens sind untrennbare Bestandteile
dieser Technologien. Als besonders fortschrittlich galt es, bevöl¬
kerungspolitische Ziele als 'Vorsorge der noch nicht Geborenen'
zu realisieren. Die Vorsorge der noch nicht Geborenen, die die
Geburtshilfe bis zu Qualitätskontrolle von Samen und Fi erwei¬
terte und intensivierte, erfolgte über den Ausbau der biochemi¬
schen und molekularbiologischen Grundlagenforschung und
der angewandten Forschung - als Experiment an Frauen. Die
Trennung von Sexualität und Fortpflanzung (durch Sterilisie¬
rung und künstliche Befruchtung) war Mittel der Bevölkerungs¬
und Rassenpolitik. 1942 wurde eine 'Reichsarbeitsgemeinschaft
Hilfe bei der Kinderlosigkeit in der Ehe'mit dem Ziel gegründet,
Sterilität in » vollwertigen« Ehen zu behandeln. Diese Arbeitsge¬
meinschaft förderte künstliche Befruchtung, wenn hormonelle
Therapie und Eileiterdurchblasungen versagten. Dafür garan¬
tierte sie »genetisch hochwertigen« Samen anonymer Spender
von »einwandfreier Herkunft«. Parallel dazu fand eine intensive
Samenbank-Forschung statt. Man experimentierte bereits im
Dritten Reich mit Frauen, um den optimalen Zeitpunkt für die
Samenübertragung bestimmen zu können."
Beweise freilich hat Der Spiegel nicht nötig. Tatsa¬
che jedenfalls ist, daß es seinerzeit noch nicht einmal
Blutbanken, geschweige denn Samenbanken gegeben
hat, da sie Erfahrungen und technische Kühl- und
Gefrierverfahren voraussetzen, die erst nach 1945 ent¬
wickelt wurden!
Draußen geblieben -- bei den Verbannten
Meine Richtigstellungen konnten den Zorn der Betroffenen erregen und
sie im Dezember 1955 nach Rückkehr aus sowjetischer Lagerhaft erfuhr als
erschienen, wie z.B.: 57)
zu ähnlichen Reaktionen führen, wie ich
in Ost- und Westzeitungen wilde Artikel
Schenk -- ein meineidiger Massenmörder
Bonn (ADN). Nazi-Professor Dr. Schenk, der am 13. Dezember provokatorisch die aus der Sowjetunion enüassenen
OTor*r n ^htTei"hfir'!l 1C ' t 0berländer in Friedb "< 1 *» Meineid sprechen lieg, daß sie nicht
f ist selhtlein faschistischer “assenniörder. Schenk war ehemaliger
Ü'Sr T e f“‘fr ” d **'' BHitlers. In seiner Eigenschaft als „Emähmngst
SlTn Je dmiSrdcnsche Experimente mithochwertigen Eiweißpräpamten den Tod tausender ehemaligef Kr-
Häftlinge und sowjetischer Kriegsgefangener auf dem Gewissen. 8
'- Berliner Zeitung, Berlin-O, 31.12.1955_
Bis zum heutigen Tag variantenreich kolportiert
ergeben sie ein Psychogramm, wie es vernichtender
nicht sein könnte. Ich schwieg bisher dazu.
Aber wenn sich heute "Verdächtigung hie — Verdäch¬
tigung da" allerorten Beschuldigungen häufen, wenn
überall Papiere exhumiert und rufmörderisch gegen
Unliebsame verwendet werden, dann möchte ich mich
schließlich doch zu Wort melden und abschließend sa¬
gen: "So Manches im NS-Staat war anders, als es
posthume Besserwisser ausposaunen."
Die 12V6 Jahre Nationalsozialismus waren von so kurzer
Dauer, daß wir noch über den Tellerrand blicken konn¬
ten. Die Kinder der "Deutschen Demokratischen Repu¬
blik" aber wurden in die Schüssel hineingeboren. Was
uns noch zu eigen war, konnten sie nicht mehr erfassen.
Selbst Größtes verlor sich, und gänzlich Anderes wurde
für sie angerührt.
Nur Introvertierte können sich da zu Schnellrichtern
aufwerfen. Meine folgenden Bemerkungen zu persönli¬
chen Dingen, die ich weit hinter mir ließ, sollen lediglich
dartun, daß man an Dinge, die sich in Grauzonen abspie¬
len, mit Bedacht, Sorgfalt und Güte herantreten sollte,
wenn man ein Gerechter bleiben will. Für die unschul¬
dig Verfolgten meiner Generation ist der angesprochene
Zeitabschnitt bis auf die vielfältigsten Folgen vorbei. So
widme ich diesen vorliegenden Bericht gegenwärtig un¬
schuldig Verfolgten und den Häschern, die kaum ahnen,
was sie wieder einmal zerstören können.
Im November 1933 zog ich das Aufnahmegesuch in
die SA zurück und begründete schriftlich:
"Es ist mir... unmöglich zu glauben, daß für die Zugehörig¬
keit zu einem Volk die Rasse entscheidend sein soll... Ich bin Arzt
und muß mich deshalb nicht den Starken, sondern den Schwa¬
chen verantwortlich fühlen, jenen also, die... dadurch, daß sie
nicht aufgenommen werden, die Schar der Opfer vermehren....
Es ist mir unmöglich, eine Lügenbrücke zu bauen.... Dann will
ich lieber draußen bleiben bei den Verbannten...."
Ich stand weiterhin in aller Öffentlichkeit zu den
geächteten jüdischen Freunden, blieb nach ihrer Emi¬
gration mit ihnen im Briefwechsel und regelte ihre
persönlichen Angelegenheiten in Deutschland. Ohne
Parteigenosse zu sein habilitierte ich mich 1936 und
erhielt eine Dozentur verliehen, obgleich dies heutiger
Lesart zufolge unmöglich gewesen sein soll. 1937 wurde
ein mir zustehender, für mich beantragter Titel - wie
mir hinterbracht wurde -- wegen meiner Beziehungen
55) Vgl HT Nr 30. S. 18 - 22, Nr. 31 S. 18,25,32 + Nr. 34 S. 36 + Nr. 47 S. 13
15.
56) Karl Clauberg, "Die weiblichen Sexualhormone in ihren Beziehungen zum
Genitalzyklus und zum Hypophysenvorderlappen", 1933; "Akute Vorder¬
lappen Hormonwirkung am Ovar und deren diagnostische und therapeuti¬
sche Ausnutzung", 1933; "Die biologische Frühdiagnose der Schwanger¬
schaft" 1934; "Grundlagen für die moderne Therapie mit weiblichen Sexual¬
hormonen" 1935; ; "Künstlich erzeugtes Tubenwachstum, ein Mittel zur
Behandlung des Eileiterverschlusses" 1936; "Eperimentelle Untersuchung
zur hormonalen temporären Sterilisation hormonal-bedingter Sterilität"
1936; "Innere Sekretion derOvarien und der Placenta" 1937; "DerEintrittder
Geburt als hormonales Problem" 1938; "Verrannte Geburtsmedianismen.
Ihre Korrektur durch retrograde Konstruktion eines neuen Geburtsmechanis¬
mus" 1939; "Die Behandlung der chronischen Eileiterentzündung unter
besonderer Berücksichtigung der Anwendung des Follikelhormons" 1940.
57) Vgl. Titelbild HT Nr. 33 S. 1.
zu jüdischen Kreisen abgelehnt. Daraufhin kündigte ich
meine Stellung, nicht ohne das Ministerium auf eine
weit verbreitete Unzufriedenheit im akademischen
Mittelbau hinzuweisen, was eine Rüge wegen unge¬
bührlichen Verhaltens zur Folge hatte.
Wäre ich der "stramme Nazi" gewesen, zu dem man
mich später machte, so hätte ich alles andere eher als
eine Zurücksetzung zu erwarten gehabt. So stand ich
draußen vor und dachte an die Niederlassung als Inter¬
nist und Arzt für Naturheilverfahren. Darauf hatte ich
mich seit Jahren praktisch, theoretisch, mit öffentlichen
Vorträgen vorbereitet und mir einen gewissen Namen
gemacht. Das wurde Anlaß zu einer überraschenden
Wende.
Ich wurde nach München zum Reichsärzteführer Dr.
G. Wagner beordert. Der nahm keinen Anstoß am feh¬
lenden Parteiabzeichen, fand Gefallen an der Auseinan¬
dersetzung mit der Universität und beauftragte mich
mit der Planung eines Gesundheitshauses der Ärzte¬
schaft sowie der Organisation einer Klinik, in welcher
nach streng wissenchaftlicher Methodik Verfahren der
Naturheilkunde geprüft und bewertet werden sollten.
Ersterer Plan scheiterte aus finanziellen Gründen. Die
Prüfklinik hingegen wurde verwirklicht und ich Mitte
1938 zum Chefarzt der II. medizinischen Abteilung des
Krankenhauses München-Schwabing bestellt. Die wun¬
derbare Entwicklungarbeit fand mit Kriegsbeginn 1939
ihr Ende. Das Parteibuch der NSDAP brachte der zu¬
ständige Ortsgruppenleiter Anfang 1939 in mein
Dienstzimmer. Ab August 1939 wurde die NSDAP-
Zugehörigkeitfür Kriegsteilnehmer bekanntlich ausge¬
setzt. Doch unabhängig hiervon war es gar keine Frage,
daß das einem Arzt abverlangte und von ihm als selbst¬
verständlich erachtete Verhalten nach wie vor dominie¬
rend blieb. So spendete er selbst Blut, wenn dies half,
einen Regimegegner oder aus anderen Gründen in ei¬
nem KL Inhaftierten vor dem Ausblutungstod zu retten,
so versorgte er kranke Kriegsgefangene oder Ostarbei¬
ter nach gleichen Grundsätzen wie deutsche Kranke.
Lediglich die Aufgaben, vor die ich mit Kriegsbeginn
von einem Augenblick zum anderen gestellt wurde,
waren gänzlich neu. Bei der Krankenernährung der Zi¬
vilbevölkerung ergab sich sehr schnell ein Leck, das die
gesamte Lebensmittelrationierung gefährdete und für
das die Ärzteschaft verantwortlich gemacht wurde.
Reichsgesundheitsführer Dr. L. Conti beauftragte
mich mit der Abdichtung. Sie gelang innerhalb eines
Monats und hielt bis in die Nachkriegszeit an. Conti
hatte auch durchgesetzt, daß jeder im Deutschen Reich
Beheimatete im Krankheitsfall Anrecht auf gleiche
Ernährungszulagen hatte.
So wurden z.B. bei der Gesamterfassung der Zucker¬
kranken am 15.2.1941 im Reichsgebiet auch 1.645 jüdi¬
sche Diabetiker gezählt, welche Zulagen erhielten. Zu
diesen wären andere zu rechnen, welche wegen anderer
Krankheiten in gleicher Weise versorgt wurden. Das
wäre im einzelnen zu analysieren. An dieser Stelle
möchte ich lediglich feststellen, daß es ungeachtet der
Behandlungsverbote im Reichsgebiet damals hunderte
von Ärzten gegeben haben muß, welche Juden solange
liwtorieche Tataachen Nr. 66
39
krankheitsgerecht behandelt haben, solange sie sich vor
der Ende 1941 verfugten Zwangsdeportation in ihrem
ärztlichen Hilfsbereich aufhielten.
Bereits im Herbst 1939 traten bedenkliche Schwie¬
rigkeiten bei der Verpflegung der Fronttruppen auf. Die
Oberkommandierenden der Wehrmachtteile schufen
daraufhin die Position eines »Emährungsinspekteurs«
zunächst bei der Waffen-SS mit späterer Ausweitung
auf die gesamte Wehrmacht.
Unter Beibehaltung der bisherigen Aufgaben wurde
ich dazu bestimmt und vom Reichsmarschall Hermann
Göring in meiner Eigenschaft als Sanitätsoffizier des
Heeres zur Waffen-SS versetzt. Nach Einsatz als Trup¬
penarzt auf fast allen Kriegsschauplätzen wurde ich
1942 nach Berlin zurückbeordert und zusätzlich mit der
Entwicklung neuartiger Verpflegungsmittel beauftragt.
Ende 1942 stieß ich erstmals auf die ungeheuren
Ernährungsmißstände in den KL und sah deren elende
Opfer in Massen. Es stand für mich außer Zweifel, daß
die Hungersnot bekämpft und die Hungerkranken
überleben, ja wieder in guten Gesundheitszustand ge¬
bracht werden mußten. Den bereits mancherorts aus¬
gebrochenen Seuchen und der Hungerdystrophie, die
man nicht beherrschte, stand man ratlos gegenüber.
Vergessen war inzwischen, was man vom Hunger aus
dem Ersten Weltkrieg noch hätte wissen können. Meine
zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen über
den Hunger waren offensichtlich nicht rechtzeitig an die
bedürftigen Stellen gelangt. Ich habe dies bei der hun¬
gernden Kampftruppe i n Taganrog am Schwarzen Meer
ebenso erlebt wie bei der von den Bombenangriffen
heimgesuchten deutschen Zivilbevölkerung.
Ende 1942 befahl Himmler — offenbar veranlaßt
durch eine Radiomeldung der Feindseite - eine Inspek¬
tion des Zigeunerlagers in Auschwitz-Birkenau. Hier
befanden sich vor allem die Kinder - man hatte sie bei
den Familien belassen - in elendstem Zustand. Ihnen
waren entsprechend ihrem Alter lediglich Anteile der
Erwachsenrationen zugeteilt worden, statt kinderge¬
rechte Lebensmittel. Der vom Ernährungsinspekteur
unterrichtete Ministerialdirektor Dr. Moritz vom Reichs¬
ministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEuL)
hatte von den Kindern im KL Auschwitz-Birkenau nichts
gewußt, war entsetzt und erließ sofort die Verordnung,
daß Kinder von Ostarbeitern, gleich, ob sie in Lagern
gehalten würden oder nicht, die gleichen Lebensmittel¬
sätze erhielten wie die deutschen Kinder der entspre¬
chenden Altersstufen. (10 Jahre später stieß ich im so¬
wjetischen Gulag auf das gleiche Problem). 581
Die zunächst in Angriff genommenen Bemühungen,
Häftlingsrationen denen der Zivilbevölkerung gleichzu¬
stellen, scheiterten am Justizministerium, das für KL-
Häfllinge Gefängnisrationen verfügte, und am RMEuL,
das keine zusätzlichen Lebensmittel zur Verfügung hatte.
So mußte man schrittweise an die Sache herangehen.
Zunächst bekamen die Lagerärzte per Rundschrei¬
ben vom 12.5.1943 nähere Aufklärung über die weithin
unbekannte Oedem- (Hunger) Krankheit und Anwei-
sung zur Beh andlung mit hochwertigen Eiweißträgern.
58) ausführlich in: E.G. Schenck, "Woina Plenni" I., Stockach 1986, S. 231 ff.
Es wurde ihnen mitgeteilt, daß sie für kranke Häftlinge
Krankheitszulagen wie für die Zivilbevölkerung erhal¬
ten können. Im September 1943 wurde Befehl erteilt,
daß die Verpflegung der Häftlinge in den KL-Kranken-
revieren nicht nur nicht verkürzt werden dürfe, sondern
vielmehr aufzustocken sei. Schließlich erging im No¬
vember 1943 eine Verordnung des RMEuL, derzufolge
sämtliche Häftlinge, also auch die nicht zur Arbeit
eingesetzten, eine Schwer- resp. Schwerstarbeiterzula-
ge erhielten.
SS-Obergruppenführer Pohl, Chef des SS. Wirtschafts-
Verwaltungshauptamtes, der, wie ich weiß, die Häftlin¬
ge nicht nur als Arbeitskräfte betrachtete, sondern als
elende Menschen erkannte, richtete persönlich mehrfa¬
che Direktiven und sehr ausführliche Befehle an sämt¬
liche Lagerkommandanten und Verwaltungsführer (z.B.
24.3. + 23.10.1943), die vom Ernährungsinspekteur aus¬
gearbeitet worden waren. Sie enthielten alle nur er¬
denklichen Maßnahmen zur Erleichterung des Lebens
der Häftlinge. 591 Die Lagerverwaltungen wurden stän¬
dig unter Druck gehalten, sich zusätzliche, nicht ratio¬
nierte Gemüse, Wildgemüse, Zuckerrüben, Brauereihe¬
fe, Blut aus Schlachthäusern usw. kraft Eigeninitiative
zu beschaffen. In 2 KL wurden Lehrküchen für die
Köche aller KL eingerichtet, die erfahrene Truppenlehr¬
köche leiteten und ihr Fachwissen in Lehrkursen ver¬
mittelten. Ein großes Problem blieb die Beschaffüng der
Kochkesselkapazität. Diese und andere Maßnahmen be¬
wirkten zwar insgesamt eine Erleichterung, doch ange¬
sichts der sich immer katastrophaler entwickelnden
Kriegslage keine Wende.
Da hochwertige Eiweißträger knapp und rationiert
waren, mußte man an nicht rationierte Nahrungsmittel
denken. Als solche boten sich die altbekannte Nährhefe
und das Kriegsprodukt "Biosyn" aus Oidiumlactis (Edel¬
schimmelpilz im Käse) an. Leider konnten sie niemals in
der projektierten Menge erzeugt werden, weil ihre
Fabrikationsstätten immer wieder bei den gehäuften
Bombenangriffen beschädigt wurden. Immerhin konn¬
ten bis Mitte 1944, als dann nach und nach alles ausfiel,
600 - 700 Tonnen dieser Eiweißträger in die KL gebracht
werden.
So selbstverständlich und notwendiges war, sich der
Hungernden in den KL anzunehmen, so selbstverständ¬
lich und notwendig war es auch, sich der unter den
immer mörderischer werdenden Luftangriffen leiden¬
den deutschen Zivilbevölkerung und zurückgedrängten
Truppen anzunehmen. So wandte ich mich nach Erledi¬
gung der letzten übergeordneten Dienstpflichten wieder
dem unmittelbaren ärztlichen Beruf zu und operierte
noch 10 Tage lang im Notlazarett der Reichskanzlei. 60 ’
59) Historische Tatsachen Nr. 49, S. 27/28.
60) E.G. Schenck. "Ich sah Berlin sterben"", Herford 1970. - Unverändert in:
"1945. Als Arzt in der Reichskanzlei", Stockach 1985.
Von Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck nach dem Krieg herausgegebene Bücher:
1) ”1945 - Als Arzt in Hitlers Reichskanzlei", Stockach, 3. Aufl. 1986,
194 Seiten
2) "Woina Plenni — 10 Jahre Gefangenschaft in sowjetischen Lagern",
Dachau 1985, 470 Seiten
3) "Vom Massenelend der Frauen Europas", Bad Godesberg 1988, 199
Seiten.
4) "Patient Hitler — Eine medizinische Biographie", Düsseldorf 1989.
40
Himtarieche Totlachen Nr.,